20110730
28 Days Adult Game Station / Last Day
"Also steuerten wir den Sirenen vorüber; und leiser,
Immer leiser, verhallte der Singenden Lied und Stimme."
Gegen Tausendeinhundert komme ich dich besuchen, im Marschgepäck wie bestellt: Gürtel, Kabel, Mütze, Kinder. Du schläfst wieder, ich küss dich wach und du siehst jetzt nicht anders aus, als an jedem anderen Morgen. Wir essen mit deinem adipösen Zimmergenossen. Sitzen am kleinen Gemeinschafts-Tisch, dessen hässliches Holzimitat sich schamhaft unter einer ochsenblutroten Einwegtischdecke verbirgt. Es gibt Gulasch in Rindsaft oder so und Kompott oder so. Merkwürdige Momentaufnahme.
Später erzählst du mir belustigt, dass der verwulste Pykniker mit dem Nabelbruch sich gestern nacht eine Alte zum Bumsen mit aufs Zimmer gezerrt hat. Die Nachtschwestern nennen sie: die „Kondomfaule“. Der ungewöhnlichen Geräuschkulisse entnimmst du, dass die Dame nur ein Bein und eine Prothese trägt. Vielleicht eine zuständige Krankenhausprostituierte, die Langzeitpatienten beglückt und deshalb auf den Stationen toleriert wird.
Wir befinden uns teilweise unfreiwillig auf einer kleinen Expedition: erkunden Treppenhäuser, landen unversehens in der Wäscherei, entdecken geheimnisvolle Hintertüren, stemmen den Kinderwagen über Bauzäune, balancieren auf maroden Balken über natürliche Nord-Süd-Gefälle und erreichen erschöpft dieses hübsche Versteck, dass du von deinem Zimmerfenster aus entdeckt haben musst: eine kleine Bank unter einem Holz-Verschlag zwischen Brennnesseln und Bauschutt. Man raucht und geniesst Sonnenschein und Stille.
Dann sprichst du zum ersten Mal über deinen langen Schlaf. Analytisch und distanziert. Postkomatöse Defizite, vor denen man uns gewarnt hat, kann ich ausschliessen. Ich geh mit den Kindern nach hause, Mittagsruhe.
Als wir uns am frühen Abend noch einmal auf den Weg zu dir machen wollen, klingelt es unerwartet. Widerwillig beäuge ich die Gegensprechanlage. Ein Besucher würde unseren geplanten Ausflug unerwünscht verzögern. Die Kinder starren mich erwartungsvoll an, aber ich beschliesse, das Klingeln zu ignorieren. Doch dann überkommt mich ein aberwitziger Gedanke: „ Und was, wenn doch ...?“ Zögerlich greife ich zum Hörer, frage vorsichtig „Hallo?“. Tatsächlich, du bist es,... brummst lakonisch: “Zigarette...?“
Um mich beim Grabtuchs des Laertes Weben nicht widerstandslos vom Kummer überwältigen zu lassen, zwang ich mich so manche Nacht, mir diesen Moment auszumalen, den Tag deiner Heimkehr, der Triumphzug des Todgeweihten. Zur Illustration bemühte ich in meiner Vorstellung bevorzugt klassizistische Motive: Mit im Schein unzähliger Fackeln gleissender Rüstung und Schild lenkst du stolz eine Quadriga. Oder so. Statt dessen lehnst du natürlich lässig auf der Hoftreppe, blinzelst vergnügt in die Abendsonne und fragst nach einer Kippe. Wir sitzen noch bis spät in die Nacht auf den warmen Stufen.
Hier beende ich dein Krankenhaus-Protokoll. Du kannst deine Erinnerungen jetzt wieder selbst verwalten. Wenn du mich irgendwann danach fragen solltest, wie es dem Diesseits ergangen ist, während du träumtest, werde ich dir diese Notizen zu lesen geben. Was du wohl daraus machen wirst?