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20121018

No I will not go to bed.


1970/10/18 - Köln Das Millionenspiel wird urausgestrahlt.  


Jagt ihn - er ist ein Mensch! -- "HÖR ZU" Nr. 42 / 1970, S. 5:
Das Millionenspiel, Ausgeburt eines kranken Gehirns?

"Unerhört! Wie kann man so etwas Perverses senden?
"Das kann sich nur ein krankes Gehirn ausdenken. Ich bin entsetzt!"
Noch sind diese Leserbriefe nicht geschrieben. Vielleicht werden sie geschrieben - wenn das 'Millionenspiel' über die Bildschirme gelaufen ist. Denn was dieses Spiel zeigt, ist ungeheuerlich, ist angeblich die TV-Unterhaltung von morgen, eine Menschenjagd auf Leben und Tod, ausgestrahlt in Millionen Wohnungen, in denen Väter, Mütter und Kinder sitzen, um mitzuerleben, wie der Kandidat, von den Kugeln der Verfolger getroffen, verreckt, live, in Farbe - oder wie er überlebt und eine Million kassiert.
Der Autor dieser grauenhaften Zukunfts-Television ist Wolfgang Menge. Er glaubt, daß bis zur Verwirklichung solcher Vorstellungen nur wenige Jahre vergehen werden. Wahnwitz - möchte man sagen. Denn beteuern wir nicht unentwegt, daß jedes Menschenleben heilig ist? Diskutiert diese Gesellschaft nicht leidenschaftlich die Frage, ob es erlaubt ist, einen Embryo zu töten - weil er ein Mensch ist? Und dann sollte dieselbe Gesellschaft in ein paar Jahren biertrinkend und skrupellos dem unmenschlichen Mordspiel zuschauen, Wetten abschließen und nach einem letzten Blick auf die Leiche des Kandidaten seelenruhig schlafen gehen?
Unmöglich! Oder?
Wer sind wir denn? Feiern wir nicht die Humanität, die Beweise der Menschlichkeit und der Barmherzigkeit? Preisen wir aber nicht zugleich die 'brutalen' Filme, die Männer, die 'kein Erbarmen' kennen?
Das deutsche Fernsehen, das sich so besorgt zeigt um die Entwicklung der Jugend, füttert eben diese Jugend mit Brutalität und Gewalt. Jeden Tag werden auf dem Bildschirm Menschen von Schlägern, Kugeln oder Messern tödlich getroffen - nicht mehr zum Entsetzen der Zuschauer, sondern zu ihrer Unterhaltung.
Und Zimmermanns Jagd? Mag sie auch in bescheidenem Maße einem guten Zweck dienen, weit mehr noch dient sie der Unterhaltung, dem Nervenkitzel von Millionen, der hohen Sehbeteiligung.
Am 1. Oktober waren wir Zeugen eines niederschmetternden Versuchs ('Abraham'): Im Münchner Max-Planck-Institut wurden 100 Bürger aufgefordert, ihnen unbekannte Menschen 'zur Strafe' mit Elektroschocks zu foltern. Trotz gellender Schmerzensschreie der Gequälten führten nicht weniger als 85 Testpersonen die Befehle der Bewußtseinsforscher ohne Skrupel aus.
Wer wollte da noch ausschließen, daß eines bösen Tages 85 Prozent ohne Skrupel das Millionenspiel verfolgen?
Empörung ist angebracht. Aber wogegen? Nicht jedenfalls gegen das Spiel von Wolfgang Menge. Das ist Schock und Warnung zugleich. Wohl aber gegen die Doppelbödigkeit unserer Moral, gegen die Kräfte der Abstumpfung, gegen die Barbarei in uns.
Wenn das Mordspiel Wirklichkeit würde, hätte unsere Gesellschaft ihr einziges bedeutendes Spiel verloren, jenes nämlich, in dem es um den Sieg der Menschlichkeit geht.
-Va, HÖR ZU-