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20140927

Der schönste 27. September


1960/09/27 - Halle Christa Wolf folgt einem Aufruf der Moskauer Zeitung Iswestija, diesen Tag zu beschreiben. Da nichts besonderes passiert ist, schreibt die Schriftstellerin das auf und beschliesst, es im folgenden Jahr noch einmal zu versuchen. Wieder nichts. Fortan beschreibt sie,  bis zum Jahre 2000, jeden ihrer 27. September, gibt auf, veröffentlicht das Konvolut unter dem Titel „Ein Tag im Jahr“ und macht dann doch weiter.



1961/09/27 - Mittags Königsberger Klopse, die Gerd gemacht hat, eines der wenigen Gerichte aus der ...
... Brandenburger Küche, die er von mir gelernt hat, sonst steuert er mehr aus seiner feineren Thüringer Küche zu unserem Speiseplan bei. Bei Königsberger Klopsen, bei Mohnpielen, bei Blutwurst mit Sauerkraut, bei Grünkohl sehe ich immer meine Großmutter in ihrer Küchenschürze am Herd stehen (ihrer »Kochmaschine«). An einer Gedankenkette, deren einzelne Glieder mir ganz logisch vorkommen, hangele ich mich bis zu der Bemerkung, die ich ausspreche: Was für Katastrophen passieren mußten, daß wir uns kennenlernen konnten. – Wie kommst du darauf. – Durch meine Großmutter. – Gerd versucht meinem Gedankengang nachzugehen: Faschismus, Krieg, Flucht, ein fremder Wohnort als Möglichkeit, sich zu begegnen. – Welche Großmutter, fragt er. – Die, die du kennst. Die für Annette ein Wolljäckchen gestrickt hat, ehe sie starb. Die immer »Jerhard« zu dir gesagt hat. – Die andere Großmutter, die auf der Flucht verhungert ist, kommt nicht ins Gespräch. Ins Gespräch kommt überraschenderweise die Frage, was uns eigentlich, ganz konkret, in der DDR hielt (und hält), da so viele weggingen. (Diese Frage ist ja nun auch zu einem Unterton in meiner Erzählung geworden.) Im Negativen sofort zu beantworten: Man weiß, was »drüben« gespielt wird, und daß man da nicht hingehört. Im Positiven: daß hier bei uns die Bedingungen zum Menschwerden wachsen. Theoretisch ganz klar. Praktisch: Wachsen sie wirklich? Streuen wir uns nicht oft über die konkreten »inneren Verhältnisse« »unserer Menschen« Sand in die Augen? Zum Beispiel: Ihre Beziehung zur Vergangenheit. Eines Abends, als die Ammendorfer Brigade bei uns war, wurde es erst lebhaft beim Austausch von Kriegserinnerungen. Und so bei vielen Leuten. Es fällt ihnen unendlich schwer, sich selbst gegenüber kritisch zu sein. Und das in den Zeitungen gerühmte »politische Bewußtsein« der Arbeiter? Viele wirtschaftliche Erfolge haben natürlich als Ursache materielle Berechnungen der Arbeiter zugunsten ihrer Lohntüte, wie es ja nicht anders sein kann. Aber ich erlebe in Ammendorf, daß so etwas wie die Werksehre den Arbeitern nicht gleichgültig ist und daß die Genossen in mühevollen täglichen Diskussionen etwas wie »Bewußtsein« vermitteln. Immerhin bauen sie in unserer Brigade jetzt zehn Fenster pro Schicht, was mir vor einem Jahr noch utopisch erschien. Und sie sind stolz darauf, was sie niemals zugeben würden. Aber wie viele, denen man es niemals zugetraut hätte, waren am nächsten Morgen verschwunden, Richtung Westen. Ich hatte das Gefühl: Das Land blutet aus. Und die Funktionäre, die in den Ämtern ihre Sessel drücken und Bürokratismus exerzieren, tun das Ihre dazu. Wie lange, fragen wir uns, können wir uns noch mit Brechts Spruch trösten: »Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit, konnten selber nicht freundlich sein«? Wenn aber die Freundlichkeit schwände, was hätte denn all diese unerhörte Anstrengung in diesem Land für einen Sinn? Mittagsruhe. Las in Aragons »Karwoche«, das mir technische Anregungen gibt, um mich von dem Zwang der Prosa-Konstruktion aus dem 19. Jahrhundert zu entfernen, die bei uns als realistisch gilt, und mir mehr Freiheit dem Stoff gegenüber nehmen zu können. Kurzer Schlaf. Kaffee. Die eine Maschinenseite, die das Ergebnis dieses Tages bleiben wird und die natürlich den handschriftlichen Text verändert hat. Ein mageres Resultat, das sage ich mir fast jeden Tag, während ich wieder zum Kindergarten gehe, um Tinka abzuholen. Ich muß möglichst pünktlich um vier Uhr da sein, sie steht schon abmarschbereit an der Tür, ich vergesse den Blick nicht, als ich es einmal nicht schaffte und sie als letzte abholte. – Wie war's heute? – Ganz schön. – Was habt ihr gespielt? – Es geht ein Bi-Ba-Butzemann in unserm Kreis herum. - Aha. Und? – Ich kann bis zehn zählen. – Das konntest du doch schon. – Jetzt kann ichs richtig. Morgen hab ich Geburtstag. Muß ich da auch zum Kindergarten? Deutlicher hat sie noch nie gesagt, daß sie lieber zu Hause bleiben möchte. Sie direkt zu fragen, ist sinnlos, sie sagt nichts, wenn sie nicht will. – Morgen hol ich dich mittags ab. Nachmittags feiern wir deinen Geburtstag. Ein verwandeltes fröhliches Kind hüpft neben mir her, während ich spüre, wie mir das Herz schwer wird. Die Kinder sind in letzter Zeit viel kränklich und brauchen Pflege, der Arzt, der zwar freundlich ist, aber von ihnen gehaßt wird, weil er immer Schwitzkuren verordnet, meint, die Hallenser Luft lege sich ihnen auf die Bronchien, man müsse schon abgehärtet sein, um den Chemienebel hier zu vertragen. Sicher spüren sie aber auch meine stumme Verzweiflung, wenn die Tage mir auseinanderlaufen, manchmal lasse ich es sie entgelten, was nicht recht ist und meine Verzweiflung steigert. Es ist doch etwas daran, daß eine Frau in »Künsten und Wissenschaften«, wenn sie Kinder hat, nicht leisten kann, was einem Mann mit gleichen Anlagen zu leisten möglich ist. Ein häufig durchdachtes Kapitel, das einen bitteren Bodensatz hinterläßt, der Gerd rasend macht. Aber die Kinder werden größer, und einmal muß doch wieder Konzentration in mein Leben kommen – wenn ich sie dann nicht schon verlernt habe. Zu Hause überreicht Tinka mir ihre Stullentasche und witscht sofort um die Hausecke in den Garten zu ihrem Freund Olaf, der schon sehnsüchtig auf sie gewartet hat. Vom Küchenbalkon aus sehe ich sie auf der morschen Bank an der Laube sitzen, in ein Gespräch vertieft, das ich zu gerne belauschen möchte. Man übertreibt wohl nicht, wenn man annimmt, daß Olaf Tinkas erste Liebe ist. Aber ich muß noch eine unruhige halbe Stunde überstehen, ehe auch Annette zu Hause ist – wieder hat sie die Bahn, mit der wir sie erwarten, nicht geschafft, wieder mußte ich mir vorstellen, was ihr alles passiert sein kann, vielleicht ist sie müde, paßt auf der Straße nicht auf, ist durch den langen Schultag überfordert. Meine Erleichterung ist groß, als sie die Treppe raufkommt, unsere Begrüßung ist stürmisch, ein ganzer Abend und eine lange Nacht liegen vor uns, in denen wir alle zusammen in Sicherheit sind und ich mich um keinen sorgen muß. Nicht erst seit dem Krieg und der Flucht, schon als Kind hatte ich diese Katastrophenangst, die ich vor Gerd zu verbergen suche, aber er spürt sie immer. Er sammelt die Kinder ein, während ich Abendbrot mache – ja, Königsberger Klopse wären den Kindern willkommen – und besieht mit ihnen »Erwachsenenbilderbücher«, eine beliebte Beschäftigung. Am allerliebsten vertiefen sie sich in die Bilder der naiven Maler. Als ich ins Zimmer komme, um sie zum Abendbrot zu rufen, klappt Tinka gerade einen der Bildbände zu: Habt ihr nur Bilder von Arbeitern? – Warum? – Die will ich nicht mehr sehen. – Warum nicht? – Weiß nicht. Sie sind langweilig. – Aber Arbeiter sind doch sehr wichtig. – Wichtig schon. Aber ich will sie nicht immerzu sehen. – Was willst du denn lieber sehen? – Na, andere Menschen. Oder wie ich mit Berit im Kinderzimmer spiele... Gerd ist entzückt. Literaturkritik auf hohem Niveau, sagt er. Der künftige Leser meldet seine Ansprüche an. Das laß dir mal gesagt sein, Frau Autorin. Keine Arbeiter, wenn's möglich ist. – Dafür muß ich ihn boxen, Tinka wirft sich sofort auf seine Seite und stellt sich schützend vor ihn, während Annette mit ihrem Gerechtigkeitssinn findet, Vater hätte mir nicht die Freude an den Arbeitern verderben dürfen. Sie weiß, woran ich gerade schreibe. Das Abendbrot ist ziemlich turbulent, Tinka versucht mit durchsichtigen Tricks, nacheinander aus jedem von uns herauszukriegen, was für Geschenke sie morgen zu erwarten hat, wir drei sind eine undurchdringliche Front, Annette hat es gern, wenn sie bei solchen Gelegenheiten zu den Erwachsenen zählt. Sie darf den Geburtstagstisch in meinem Zimmer mit aufbauen, die fünf Kerzen in den nassen Sand auf dem Teller stecken und ihn mit Asternblüten schmücken, während Tinka schon im Bett liegt und einsames, verstoßenes Kind spielt. Am Ende kriegen beide noch ihr Gute-Nacht-Lied, am liebsten »Der Mond ist aufgegangen«, weil es so viele Strophen hat. Nach der letzten Strophe sagt Tinka jedesmal: Aber wir haben zum Glück keinen kranken Nachbarn, nicht? Wir machen es uns im Zimmer bequem; ich nehme mir noch die Zeitungen vor, zu denen ich bis jetzt keine Zeit hatte und die ich in zehn Minuten durchgeblättert habe. Offenbar geht es darum, »Bonn« nach der Grenzschließung am 13. August als isoliert darzustellen: »Washington über Bonn verärgert. « »Nur noch Brandt für Adenauers Politik.« »Absage an Brandt-Kurs auf SPD-Versammlung.« »Kofferpacken in Westberlin. Konzerne wie AEG, Siemens, Osram haben begonnen, wichtige Produktionsabteilungen nach Westdeutschland zu verlegen. « »Bonn nach der Wahl: Steuerlasten nehmen zu, Preise steigen rapide. « Und dann ganze Seiten begeisterte Zuschriften aus der Bevölkerung an die Kanzlei des Staatsrates zum Verteidigungsgesetz: »Wir schützen unsere Republik«. Und in der Kultur: »Ein glanzvoller Auftakt: Felsensteins bezaubernder >Sommernachtstraum< zu Beginn der neuen Spielzeit«. Und: »Auf Gagarins und Titows Spuren: Eine Schulsternwarte in der Auguststraße«. Mein Bruder ruft an; wie es geht, ob die Kinder gesund sind, oberflächlich ist alles in Ordnung, ich merke, daß er nicht in bester Stimmung ist, dann platzt er heraus: Wie er uns beneide, daß wir beide »freiberuflich« arbeiteten, und das ja wohl nicht ohne Grund. (Da hat er recht: Weil die Atmosphäre und die Zumutungen in den Institutionen uns zu sehr belasteten, haben wir uns, zuerst Gerd, aus den jeweiligen Apparaten herausgezogen.) Horst: In den Betrieben und an der Uni sei »keine gute Luft«. – Aber jetzt wehe doch von oben etwas frischer Wind hinein, sage ich. – Er glaubt nicht daran: Taktik, sagt er. Zu viele feige Menschen ohne Gedanken und Initiative drücken die Sessel, man begrüßt sich süßsauer auf Sitzungen, sagt nicht, was man voneinander hält... Wie ich das kenne! Horst gibt aus seinem Gebiet ein paar Beispiele, bei denen die Fehlentscheidungen aus Dummheit und Feigheit gleich Hunderttausende von Mark kosten. Schlimm. Konnte darüber lange nicht einschlafen.