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Kein Hüter seines Bruders



Genesis 4:9 Zwei Polizeiwagen fahren dicht hintereinander durch die fränkischen Weinberge, grellgrüne Flecke in der kahlen Winterlandschaft. Ein Weinbauer wurde als vermisst gemeldet. Man ist nicht wirklich alarmiert auf der Polizeiwache in Dettelbach, der Gesuchte gilt als schwerer Trinker und die„verschwinden immer mal wieder und tauchen leider auch wieder auf“. Den Beamten ist das Weingut  bekannt, Zwistigkeiten und Übergriffe innerhalb des Familienbetriebes sind aktenkundig. Seitdem die Brüder Horst und Siegfried den Hof ihres verstorbenes Vaters übernommen haben, kommt es immer wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen: „Der Horst, der trinkt sich tot und der Siggi, der tut die ganze Arbeit“, so sagt man in Dettelbach.

Die Polizeiwagen kriechen die letzten Serpentinen hoch und halten vor der verschlossenen Auffahrt. Ein zweistöckige Wohnhaus, Balkon, Satellitenschüsseln und rechts ein zur Lagerung einiger Geräte genutztes, schmales, gedrungenes fliederliches Nebengebäude.



Genesis 4:10 Früher hing hier noch ein handgemaltes Firmenschild, „Winzerei Lachmann. Vertrieb und Verkostung.“. Man hatte es durch ein moderneres ersetzen wollen, die Brüder hatten sich nicht einigen können, das Vorhaben wurde kurzerhand wieder verworfen.
Die Polizisten zögern kurz, sie wissen, gleich kann es unschön werden. Dann nähern sie sich geschlossen der Eingangstür des Wohnhauses und klingeln. Sie hören eine Tür schlagen, aber niemand öffnet. Dann ein lautes Fluchen vom Balkon, Siegfried stemmt einen schweren Kübel über die Brüstung und schüttet den Inhalt über die überraschten Beamten. Ein Polizist kann nicht schnell genug ausweichen, stark verschmutztes, übel riechendes Brackwasser klatscht ihm ins Gesicht, rinnt in den Kragen seiner Uniform. „Verschwindet! Ihr habt hier nichts zu suchen!“ Siegfried schwankt, es ist früher Nachmittag und er ist offensichtlich rattendicht.
„Herr Lachmann, ihr Bruder wurde bei uns als vermisst gemeldet, dem müssen wir nachgehen.“
„Der Hans ist mir jetzt egal. Ganz egal!“ lallt es vom Balkon herunter.
„Wissen Sie, wo er sich aufhalten könnte?“ Die Polizisten beraten sich leise. „Herr Lachmann, wir werden uns kurz auf Ihrem Hof umsehen.“
Siegfried breitet die Arme aus, kichert: „Bei mir werdet ihr nichts finden.“ und öffnet das Tor. 

Das Gelände ist heruntergekommen, aber auffallend aufgeräumt. Die leeren Weinkisten wurden ordentlich in den mannshohen Giebelregalen aus verrostetem Maschendrahtzaun verräumt, im hinteren Teil, gut sortiert, die Werkzeuge und Maschinen. Von Horst Lachmann keine Spur. Hinter dem Wohnhaus befindet sich der Maschinenraum mit Lagerhalle. Im rechten Flügel des Holztores im Fischgrätmuster bemerkt ein Polizist neben der eingebauten schmalen Tür ein grosses Loch, das notdürftig mit einer Metallplatte abgedeckt wurde. Die Reparatur liegt scheinbar noch nicht lange zurück, die Platte ist, im Gegensatz zu vielen anderen Metallgegenständen auf dem Hof, rostfrei.
Ein ungutes Gefühl beschleicht die Beamten, noch wollen sie an einen belanglosen Unfall beim Verladen glauben. Die Tür ist verschlossen, sie muss aufgebrochen werden.
Hinter der Traubenpresse und den Gärbehältern sind die riesigen, stählernen Tanks. Es riecht nach Schwefel und Blaulauge.
Von Tank Nummer 14 führt eine Spur aus stark verdreckten Kleidungsstücken in den hinteren Teil des Maschinenraums. Mit der Fußspitze schiebt einer der Polizisten einen dunkelbraunen Wollpullover in Übergrösse beiseite. Darunter entdeckt er eine breite Spur aus getrocknetem Blut, die zu einem kleinen Verschlag führt, der geschickt aus Spanholzplatten auf einer kleinen, ungenutzten Fläche errichtet wurde. Die verwinkelt angeordneten, nach oben offenen Holzwände bilden winzige Nischen, die offensichtlich von Horst Lachmann bewohnt wurden. „Ein Haus im Haus“, murmelt einer der Beamten erstaunt. 


Sie zwängen sich an einer kleinen Duschwanne vorbei, in der sich Fäkalien und leere Flaschen befinden. Leere Flaschen auch auf dem Fussboden, auf dem fleckigen Sprelacart-Tisch und in einem alten Wäschezuber.
Um die Ecke ein kleines Wohnzimmer. Zwei verschmutze Plastikstühle, mehrere zusammengeklappte Campingstühle mit Floralmotiven und ein altes Sofa. Der grüne Stoff ist zerrissen, die Füllung quillt an einigen Stellen heraus. Der Tisch besteht aus einer massiven MDF-Platte, die auf gestapelte Weinkisten geschraubt ist. Auch hier überall leere Flaschen, vorwiegend Obstbrand, Wodka und Wein aus der eigenen Kellerei.
Die Polizisten bemerken mehrere Bruchstellen in den Holzwänden, hier muss jemand mit grosser Gewalt dagegen geschlagen haben. Die Blutspur führt weiter in die hinterste Nische zu einem alten Bauernschrank mit hübschen Schnitzereien. Davor eine riesige Blutlache und versprengte, graue Hirnmasse. Die linke Tür des Schrankes ist geborsten, die Innenseite blutverklebt. Einer der Beamten übergibt sich in eine Laubtonne voll Dreckwäsche, ein anderer fordert Verstärkung an.


Genesis 4:11 Siegfried Lachmann hatte sich widerstandslos in Gewahrsam nehmen lassen, obwohl alkoholisiert, sei er dann „überraschend höflich und kooperativ“ geblieben.
Als er zum Polizeiwagen bugsiert wird, hält er plötzlich inne, sein Blick ist jetzt vollkommen klar: „Und der Junge? Der kommt doch um fünf aus der Schule. Bitte, jemand muss sich um meinen Jungen kümmern. “ 

Das Polizeipräsidium Unterfranken für den Landkreis Kitzingen mit Sitz in Würzburg, Frankfurter Strasse 79, schickt umgehend Ermittler und Spurensicherung. Sie durchsuchen das Wohnhaus, finden aber nichts. Es ist auffallend ordentlich, die Reinigungsmittel in der Abstellkammer sind farblich sortiert. Auf den Tischen gehäkelte Deckchen und frische Schnittblumen. 
An der Wand hängt eine Collage mit Photos, die den Jungen mit dem Vater zeigen: bei der Weinlese, beim Angeln am Main, beim Eisessen in der Altstadt von Dettelbach. In der Mitte wurde ein wenig Platz ausgespart, in Kinderschrift: Alles Gute zum Vatertag, lieber Vati! 
Bis auf eine halbvolle Flasche Wodka auf dem Balkon finden sie hier keinen Alkohol. „Der Siggi, der ist ja kein Trinker. Wenn der am Sonntag nach der Kirche mal einen Schoppen trank, dann tat der sich doch den Wein mit Wasser verdünnen.“, wird einer der Zeugen später vor Gericht aussagen. 

Anschliessend durchsuchen sie die Lagerhalle. Ort des Verbrechens ist zweifelsohne die Nische mit dem beschädigten Bauernschrank in dem Holzverschlag. Scheinbar hatte das Opfer versucht, sich hier zu verstecken. 
Die Ermittler folgen der mit Kleidungsstücken notdürftig verdeckten Blutspur zu Tank Nummer 14. Sie öffnen den riesigen Stahlbehälter: in mehreren hundert Litern Weisswein schwimmt die Leiche eines nackten, fetten Mannes. Die Schädeldecke ist zertrümmert. Der Genitalbereich zermatscht. Schienbeine und Oberschenkel sind von Hämatomen und Striemen übersät. 
Nachdem die ersten Untersuchungen abgeschlossen sind, ergibt sich für die Ermittler folgender Tatbestand: Das Opfer, der 58-jährige Hans Landwehr, wurde in der Nacht des 27. Januar 2011 durch einen schweren, stumpfen Gegenstand mit zwei Schlägen auf die Schädeldecke in dem von ihm bewohnten Holzverschlag getötet. Post mortem wurden ihm schwere Verletzungen im Genitalbereich zugefügt. Die Hämatome an Schienbeinen und Oberschenkel stammen von einem Zwischenfall, der sich ungefähr eine Woche vor dem Todeszeitpunkt ereignet haben muss. Eine Tatwaffe wurde nicht gefunden. Es gibt keine Zeugen zum unmittelbaren Tatgeschehen. Hauptverdächtiger ist der 54-jährige Bruder Siegfried Landwehr. Dieser sitzt in Untersuchungshaft und ist nicht geständig. 



So weit, so klar. Dass es immer wieder, Jahrzehnte lang, zu heftigem Streit zwischen den beiden Brüdern kam, war in Dettelbach kein Geheimnis. Die wüsten Saufgelage, die Horst tagtäglich in der Kelterhalle veranstaltete, machten den hart arbeitenden Siegfried rasend. Vom Hof jagen konnte der Jüngere den Bruder aufgrund der komplizierten Erbfolge nicht. Dennoch, eine derart brutale Tat konnte man dem Winzer unmöglich zutrauen. Im Ort achtet man ihn als fürsorglichen Vater, als ehrlichen, zuverlässigen und fleissigen Menschen, dem leider immer die Frauen wegliefen. 
Ganz anders der Bruder, laut und derb, schon am frühen Morgen schwer betrunken, einer der ständig den Frauen nachstellt. In den meisten Gaststätten hatte er Hausverbot auf Lebenszeit. Auch unter seinen Saufkumpanen gab es sicherlich den einen oder anderen, der einen guten Grund gehabt hätte, das vorzeitige, brutale Ableben des Trinkers herbei zu führen. 
Was also war wirklich passiert in dieser kalten Januarnacht auf dem Weingut der Brüder Lachmann?


Genesis 4:12 Siegfried wird in eine Aufnahmezelle in der JVA Würzburg geführt. Untersuchungshaft. Zwei der vier Pritschen sind bereits belegt. Als die Tür hinter ihm ins Schloss fällt, wird er unsicher. Die beiden Häftlinge, die an dem kleinen Tisch in der Mitte der Zelle sitzen, lassen ihn nicht aus den Augen. Er inspiziert das engmaschige Gitternetz vor dem kleinen Fenster, seine neue Schlafstatt, das unbequeme, mit Schaumstoff gefüllte Keilkissen, die graue Wolldecke. Dann zieht er sich die Schuhe aus, stellt sie ordentlich ans Fussende, legt sich rücklings auf sein neues Lager, starrt an die Decke. Keiner der drei Männer sagt ein Wort. Plötzlich vernimmt man ein kräftiges, langgezogenes Schnarchen: Siegfried ist in einen tiefen, regungslosen Schlaf gefallen.


„Komischer Typ.“ flüstert Ingo M., ein beleibter Kraftfahrer aus Erlangen. Der andere, deutlich jüngere Patrick E. aus Österreich, zuckt mit den Schultern. „Schwer zu sagen ...“. Sie betrachten stirnrunzelnd die Silhouette des Neuen. Ziemlich gross, kräftige Statur. Kurze, graue Haare, der akkurate Pony gerade wie mit einem Lineal geschnitten. Ein grauer, sorgfältig gestutzter Bart. Die lange, knorpelige Nase ist auffallend schief, sie muss in der Vergangenheit mehrfach gebrochen worden sein. Plötzlich rutscht die linke Hand von der Brust des Schlafenden. Ingo und Patrick bemerken die zahlreichen Schwielen und kleinen Narben. 
„Schlachter.“ schlägt Ingo vor. „Naa, Tischler.“ vermutet Patrick. Die Stimmen haben Siegfried geweckt, er richtet sich auf: “Winzer. Ich bin Winzer.“. „Und woher kommen die vielen kleinen Narben?“ fragt ihn der Kraftfahrer aus Erlangen. „Vom Heften der Reben. Tückisch, dieser Heftdraht.“ Man kommt ins Gespräch. Ingo M. soll im Auflieger seines Sattelschleppers die Küchenhilfe  einer von ihm häufig angefahrenen Raststätte vergewaltigt haben. „Und ... hast du?“ erkundigt sich Siegfried interessiert. „Nicht wirklich. Man kannte sich ja schon länger, die dachte ja wohl kaum, dass ich ihr die Paletten vorstellen wollte.“ Die Männer lachen. Patrick wurde auf der Heimfahrt von Holland nach Österreich mit zwei Kilo Kokain erwischt. „Blöd gelaufen.“ Jetzt ist Siegfried an der Reihe:“ Ich soll meinen Bruder in unserer Kelterhalle erschlagen haben“. „Und hast du?“ 
Siegfried erhebt sich von der Pritsche, läuft kopfschüttelnd auf und ab, dann, mit zittriger Stimme: „Verdient hat er es. Dieses versoffene Rindviech! Diese fette Drecksau! Zwei Ehen hat der mir kaputt gemacht, ist im Suff ständig über meine Weiber gestiegen. Vom Hof will er mich fegen, dieser Nichtsnutz, was hat der gedacht, wer den Betrieb am Laufen hält?“ Er schlägt mit der Faust heftig gegen die Wand. „Und jetzt auch noch die Kleine, nach zwei Wochen ist die mir wieder abgehauen, hat‘s nicht ausgehalten mit dem Bastard! Immer hat der mir alles kaputt gemacht! Genau wie der Vater!“ Jetzt laufen ihm die Tränen.

Er wird den beiden an diesem Abend noch viel erzählen, wird fluchen, heulen, Zoten zum Besten geben, Weinlieder singen und hin und wieder an dem kleinen Tisch einnicken. 
In der Nacht wird er sich an den schlafenden Österreicher schleichen, vorsichtig einen Schnürsenkel aus dessen rechtem Schuh fädeln, eine Schlinge am Bettgestell befestigen. Der Selbstmordversuch scheitert.  Ein Wächter findet ihn bewusstlos auf dem Fussboden, er wird verlegt. Als er wieder zu sich kommt, ist er überzeugt, er müsse gleich seinen Jungen zur Schule bringen.


Genesis 4:13 Ein Jahr später. Mittwoch, 25. Januar 2012: erster Prozesstag im Hauptverfahren gegen Siegfried Lachmann vor dem Schwurgericht des Landgerichts Würzburg. Raum, Tische und Bänke sind vollständig mit hellem Birkenholz verkleidet. 
Siegfried, in blauer Anstaltskleidung, sitzt regungslos neben seinem Anwalt, Dr. Hans-Jochen Schrepfer. Der „Hanjo“, wie er ihn nennen soll, das ist ein guter Mann. Der hat gesagt, vielleicht kann er ihn da raushauen, er darf nur nichts sagen. Auf gar keinen Fall. Sich nicht provozieren lassen. Ja, Zähne zusammenbeissen, das kann er, das hat er schliesslich Jahre lang gemacht. Wenn er merkt, dass er wütend wird, dann soll er an den Jungen denken. Ein guter Mann, der Hanjo. 


Siegfried schweigt, er hat sich geschworen, kein einziges Wort zu verlieren, und „Was der Siggi sich vornimmt, das zieht er durch“. Ohne Tatwaffe, ohne Zeugen, ohne Geständnis kriegen die ihn nicht wegen Mordes ran. Die Schwestern verweigern auch die Aussage. 



Der erste Zeuge wird aufgerufen, es ist Ingo M., der Kraftfahrer aus Erlangen. Er wurde inzwischen freigesprochen, die Küchenhilfe hatte schliesslich eingeräumt, ihn aus Eifersucht angezeigt zu haben.
Woher er den Angeklagten kenne. Ingo M. schaut verunsichert in Siegfrieds Richtung. Er scheint sich zu fürchten. „Aus der U-Haft. Der Siggi kam zu uns in die Aufnahmezelle. In der gleichen Nacht ist der wieder weg, wegen dem Schnürsenkel.“ 
Wie sich der Angeklagte über die Tat geäussert haben solle. „Alles hat der erzählt, hat gar nicht mehr aufgehört. Wollte sich alles von der Seele reden. Sprach der vom Bruder, wurde er tierisch aggressiv, dann redete er über seine Kindheit und fing an zu flennen. Immer so hoch und runter.“ Er habe ihnen erzählt, dass er seinen Bruder Horst zuvor mit einem Holzknüppel attackiert habe, immer auf die Beine, als dieser ihm drohte, ihn vom „Hof jagen“ zu wollen. Als dieser Anzeige bei der Polizei erstattete, da ist „ihm der Kragen geplatzt“. Er wollte noch mal mit dem Bruder reden. Als ältester Sohn hatte Horst ein Wohnhaus in Dettelbach und den Hof geerbt, Siegfried hatte der Vater das Häuschen auf dem Weingut vererbt und die Leitung des Familienbetriebes übergeben. 
An dieser Stelle des Vortrags von Ingo M. muss Siegfried unwillkürlich lächeln. Ihm die Betriebsleitung anzuvertrauen war die erste und einzige Bestätigung, die der Vater ihm jemals hatte zukommen lassen. Geprügelt und getreten hatte er den Horst und ihn. Den Horst viel weniger. 
Er erinnert sich, es war Spätsommer, der Tag neigte sich dem Ende zu. Der Himmel über dem Weinberg war glutrot. Siegfried, vielleicht 9 Jahre alt, hatte es versäumt, wie angewiesen, einen Bewässerungsschlauch in den Geräteschuppen zu räumen. Der Vater war angetrunken über den Hof gewankt, hatte sich mit einem Fuss in dem verhedderten Schlauch verfangen und war unsanft gestürzt. Der kleine Siegfried eilte aufgeregt herbei, als er sich hinunterbeugte, um seinem Vater aufzuhelfen, trat dieser dem Jungen brutal ins Gesicht. Der schwere Arbeitsschuh brach ihm das Nasenbein, ein Schwall warmes Blut lief ihm in den Mund, über das Kinn, auf sein Hemd. Wimmernd taumelte er zurück, „Hald dai Goschn!“ schnauzte der Vater. 



Horst, der in einer Ecke des Hofes mit den polnischen Erntehelfern Karten gespielt und die Szene aufmerksam verfolgt hatte, brach in gehässiges Gelächter aus. Die Arbeiter und der Vater fielen mit ein. Siegfried wagte es nicht, nach der Nase zu tasten, es brannte, ihm war schwindelig, Tränen und Rotz vermischten sich mit Blut, er lief wie betäubt in die Lagerhalle zur Mutter. Die führte gerade mit einer Kundin ein Verkaufsgespräch. Verärgert schob sie das Kind nach draussen, „Verschwind, du Debb!“. Als sie dann auf Drängen der Kundin nach dem Kind suchte, fand sie es schliesslich zusammengekauert in einem leeren Weinfass. Ungehalten zerrte sie den Jungen am Handgelenk zu einer Tonne mit Regenwasser, wusch grob das Blut aus dem geschwollenen Gesicht und eilte zurück zur Lagerhalle. 

An diesem Abend zog er sich unbemerkt zurück auf den Weinberg. Legte sich mit dem Rücken auf die kühle, feuchte Erde. Ein Auge war zu geschwollen, sein Gesicht pochte. Der laue Abendwind trug ihm die derben Trinklieder der Polen zu. Die alten Rebstöcke beugten sich schützend über ihn. 
Er nahm sich vor, keine Fehler mehr zu machen. Keine eigenen, nicht die des Vaters und der Mutter. Sein Sohn würde es besser haben. Er würde ihn lieben und schützen. Er dürfte zur Schule gehen und Freunde besuchen. Sein Sohn hätte Freunde. Und einen richtigen Vater.


Genesis 4:14 Der Kraftfahrer Ingo M. wird aus dem Zeugenstand entlassen. Entsetztes, fassungsloses Schweigen im Gerichtssaal. Grund ist nicht allein seine Aussage, die grausame Tat betreffend, die Siegfried seinen beiden Mitgefangenen vor einem Jahr in der Aufnahmezelle der JVA Würzburg anscheinend sehr detailliert beschrieb. Vielmehr die grosse Genugtuung, mit der dieser geschildert haben soll, wie er dem Bruder die Genitalien zertrat. Mit weit ausholenden Gesten solle er demonstriert haben, wie die Brechstange auf den Schädel gekracht sei, dazu soll er immer wieder gut gelaunt den Spruch wiederholt haben: „Wer den Siggi nicht kennt, hat die Welt verpennt.“ Alle Augen richten sich auf den schweigenden Mann mit dem traurigen Gesicht auf der Anklagebank. Er wirkt weder sehr gewalttätig noch verstört. Vor ihm steht ein Liter Eistee, Tetrapak, mit Strohhalm.
Der vorsitzende Richter Lothar Schmitt, der mit seinen grau melierten Stirnfransen, den hohen Geheimratsecken, den hängenden Backen und den steil nach oben ausgerichteten, zotteligen Brauen, grosse Ähnlichkeit mit einem überheblichen Uhu hat, fasst zusammen: „ Der Bericht des Angeklagten in der Untersuchungshaft und der von den Ermittlern rekonstruierte Tathergang stimmen somit weitestgehend überein. Es wurden laut Zeugenaussage von Ingo M. Einzelheiten erwähnt, die ausschliesslich dem Täter bekannt sein dürften“.



Am zweiten Prozesstag herrscht grosse Unruhe im Gerichtssaal. Es wurden zahlreiche Zeugen aus Dettelbach geladen, auch die Schaulustigen im Saal stammen grösstenteils aus dem kleinen Ort. Einige sind offensichtlich angetrunken, ihre Jackentaschen sind von Bierdosen ausgebeult, der allgemeine Umgangston ist harsch. Als Siegfried hereingeführt wird, nickt er hier und da jemandem zu, der Gruss wird mit grossem Respekt erwidert. Zuerst wird ein langjähriger Mitarbeiter des Winzers befragt. Wie er das Verhältnis der Gebrüder Lachmann definieren würde. „Gehasst haben die sich, ganz klar. Der Siggi hat geschuftet wie ein Tier, in der Frühe ist der raus in die Weinberge, hat alles genau inspiziert. Um sieben hat der den Jungen in die Schule gefahren. Siggi hat sich um alles selbst gekümmert, hat immer richtig angepackt. Der Horst hat alles versoffen. Hat nie einen Finger krumm gemacht. Als der dann das Häuschen in Dettelbach verlor, hat der sich im Maschinenraum diese Bretterbude gebaut. Durfte er ja auch, weil ihm der Hof gehört.“ Der Staatsanwalt möchte wissen, wie Horst Lachmann das Haus in Dettelbach verlor. „ Die Leute aus der Nachbarschaft haben ihn da weggeklagt. Die haben das nicht mehr ausgehalten. Jede Nacht das besoffene Gebrülle, die Schlägereien, kreischende Weiber. Überall kaputte Flaschen und Kotze. Ich weiss wovon ich rede, wir hatten das dann später in unserem Maschinenraum.“
Als der zweite Zeuge aufgerufen wird, ist dieser plötzlich verschwunden. Man findet ihn schliesslich auf einer der Damentoiletten, den Kopf gegen einen verkachelten Vorsprung gelehnt, die Beine ragen unter der angelehnten Tür hervor. In der rechten Hand eine leere Flasche Obstbrand.

Genesis 4:15 Es werden mehrere Zeugen zu der Kindheit von Opfer und Täter befragt. Man ist sich einig, „Kindheit, das gab es auf dem Weingut Lachmann nicht“. Die Jungen hätten von Anfang an arbeiten müssen wie erwachsene Männer, haben nie Lesen und Schreiben gelernt. Erziehung hiess: Blutergüsse und Knochenbrüche. Horst, der sich früh zum aggressiven Draufgänger entwickelt habe, sah man schon mit elf Jahren häufig sturztrunken auf den fünf Jahre jüngeren Siegfried losgehen. Die beiden Mädchen sollen es auch nicht leicht gehabt haben, im Ort soll doch jeder gewusst haben, dass der Vater sich an ihnen verging. 



Siegfried, auf seiner Anklagebank, ist sichtlich angespannt, fährt sich immer wieder mit beiden Händen durch das graue Haar, wirft seinen beiden jüngeren Schwestern im Saal gequälte Blicke zu. Plötzlich springt er auf, sein Anwalt will ihn zurück auf seinen Stuhl ziehen. Aber Siegfried bleibt stehen, senkt den Kopf und rezitiert leise murmelnd ein Gedicht. Nur ein sehr genauer Beobachter hätte in diesem Moment bemerkt, dass sich die Lippen der Schwestern stumm dazu bewegen. Das Gedicht hatte ihm ein Erntehelfer beigebracht, „Die Füsse im Feuer“. Der kleine Siegfried hatte niemals ein Buch gesehen, er prägte sich jedes Wort sehr behutsam ein. Als er es der Mutter vortragen wollte, unterbrach sie ihn entsetzt nach dem vierten Vers und eilte zum Vater. Es setzte eine gewaltige Tracht Prügel, die ihm diesen „Weiber-Unsinn“ schon austreiben werde. 
Der Erntehelfer wurde unbezahlt vom Hof gejagt. Aber es war zu spät, das Gedicht war sicher und unsichtbar in seiner Erinnerung verwahrt. Dorthin reichte die Gewalt des Vaters nicht. Einige Jahre später, an einem verregneten Vormittag im März, schickte die Mutter ihn zum Geräteschuppen, er sollte Flachswerg holen. Auf dem steinernen Fussboden neben der Werkzeugbank lag wimmernd seine jüngste Schwester, die Maria. Sie war vollkommen entblösst, sie zitterte, der Mund war ganz blau. Über ihr das verzerrte Gesicht des Vaters. Leise schloss er die Tür des Geräteschuppens und lief zurück zum Wohnhaus. 
Er setzte sich schweigend an den runden Küchentisch und beobachtete den breiten Rücken der Mutter, die gerade Kartoffeln schälte. „Der Vater und die Maria ...“ setzte er an. „Ich weiss.“ unterbrach die Mutter ihn trocken. Er wollte zur Polizei gehen, das wäre doch verboten. Sie winkt ab, nein, schliesslich kommt der Vater für den Lebensunterhalt auf, so sei es nun mal. Immerhin habe sie durchsetzen können, dass dieser wartet, bis die Mädchen vierzehn Jahre alt sind. Erst viele Jahre später war ihm mal der Gedanke gekommen, dass die Mutter genau wusste, was sie tat, als sie ihn vorsätzlich zum Geräteschuppen schickte. 

In jener Nacht schlich er sich auf Zehenspitzen an das Bett der kleinen Schwester. Unbeholfen und vorsichtig strich er über ihren Kopf. Sie griff nach seiner Hand und legte sie auf ihre nasse Wange. So verharrten sie einen Moment, keiner der beiden sagte etwas. In den nächsten Tagen brachte er seinen kleinen Schwestern den Trick mit dem Gedicht bei. Stillhalten, sich nur auf die Worte konzentrieren. Warten, dass es vorübergeht.

Genesis 4:16 Als nächster Zeuge wird ein Lagerarbeiter aus Neuses am Berg vernommen. Georg A. hat eine starke Fahne, sein Blick ist glasig. „Herr. A., Sie sollen häufiger bei diesen nächtlichen Zusammenkünften in der Lagerhalle zugegen gewesen sein.“. Der Befragte zögert, schaut sich hilfesuchend im Saal um. Zuckt mit den Schultern, keine Antwort. „Haben Sie die Frage nicht verstanden?“, hakt der Staatsanwalt nach. Der Zeuge schüttelt den Kopf. Man bemüht sich, dem Zeugen die Begriffe „Zusammenkünfte“ und „zugegen“ verständlich zu machen.


Aber Georg scheint es an Konzentration zu mangeln. Im Saal fangen einige an zu kichern. Der Staatsanwalt ungeduldig: „Meine Güte, waren Sie öfter mal bei einem der berüchtigten Saufgelage beim Horst dabei und wenn ja, was lief da?“ Jetzt hellt sich das Gesicht des Lagerarbeiters auf, er versteht. „Ja, da war ich eigentlich oft, nur richtig erinnern kann ich mich leider nicht.“ „Wieso?“ Georg A. ist verdutzt, haben die komischen Kerle in ihren glänzenden, schwarzen Kleidchen noch niemals einen über den Durst getrunken? „ Wir haben ja immer ordentlich gebechert. Irgendwann ist man dann eingeschlafen und wenn man aufgewacht ist, hatte man irgendwoher schon wieder eine neue Flasche Schnaps in der Hand. Manchmal bin ich am Dienstag hoch zum Horst und war erst am Freitag wieder zu Hause.“ Richter Lothar Schmitt poliert angestrengt blinzelnd seine Brillengläser, fragt: “Und das hat dann keinerlei Einwirkung auf Ihre Berufsausübung?“ Der Zeuge grinst, ihm fehlen die Schneidezähne,„Saisonarbeit“, erklärt er. 
Man will wissen, womit sich die Herren in der Maschinenhalle ausser dem Trinken noch so die Zeit vertrieben. „ Manchmal gab‘s was zu bumsen, aber meistens haben wir uns einfach nur geprügelt.“ Gelächter im Saal. Ob es sich hierbei um einvernehmlichen Verkehr gehandelt habe. Der Staatsanwalt korrigiert sich schnell: ob die Damen einverstanden gewesen seien. „Kann ich nicht sagen.“ „Sie ,können‘ oder Sie ,wollen‘ es nicht sagen?“ Gregor A. kratzt sich nachdenklich hinter dem Ohr. „Ich weiss es einfach nicht. Die meisten wollten das schon. Irgendwie. Oder wenn nicht, dann waren sie eh zu betrunken, um sich zu wehren. Manche haben gezickt. Die haben wir dann kopfüber in ein Weinfass und dann konnte jeder-“. “Ich habe genug gehört, danke!“, unterbricht ihn der Richter.



Man vernimmt noch weitere „Saufkumpane“ von Horst Lachmann, das Unterfangen erweist sich als höchst beschwerlich: die meisten von ihnen erscheinen bereits angetrunken, einer nickt während der Befragung immer wieder ein. Ihre Erinnerungen sind sehr bruchstückhaft und vernebelt, die meisten können Erzähltes und Erlebtes nicht mehr auseinanderhalten, der Alkohol hat Spuren hinterlassen. Auf die Frage, was für ein Mensch Horst Lachmann gewesen sei, wenn er nüchtern war, antwortet einer der Befragten verwundert: „Der war nie nüchtern. Der hat keine Pause gemacht. Musste ja auch nicht arbeiten, wie die anderen. Nach dem Aufstehen hat der erst mal eine Kaffeetasse voll Schnaps runtergestürzt und dann gleich noch eine. Der war nicht nüchtern, nie.“

Richter und Staatsanwaltschaft beraten sich. Richter Lothar Schmitt schüttelt den Kopf, schlägt ungehalten mit der flachen Hand auf den Tisch, spricht ein offizielles Alkoholverbot aus. „Erscheinen Sie zur Vernehmung in Zukunft bitte nüchtern. Keine Bierdosen im Saal. Kein Schnaps in den Pausen. So kommen wir nicht weiter.“.

Genesis 4:17 „Schrecklich unwohl“ fühlt Siegfried sich in dem blauen Anstaltsanzug, die Schwester solle ihm doch bitte seine „richtige“ Kleidung mitbringen. Niemand kann sich vorstellen, wie viel Überwindung es Maria gekostet hat, diesen Hof und dieses Haus zu betreten. Irgendwie hatte sie es stets einrichten können, keinen Fuss mehr auf den Weinberg setzen zu müssen. Mit siebzehn Jahren hatte sie damals Hals über Kopf einen älteren, gutmütigen Speditionsfahrer aus dem Ort geheiratet. Es war eine ruhige und ereignislose Ehe, die ihr half, die schrecklichen Erinnerungen nach und nach verblassen zu lassen. Und nun stand sie also wieder vor dieser Einfahrt, brutale Bilder steigen in ihr hoch, schnüren ihr den Hals zu, sie bekommt kaum Luft. Gesenkten Hauptes überquert sie den Hof, es ist windig, vor der Kelterhalle flattert laut das weiss-rote Absperrband der Polizei. Der Anblick von zwei mannshohen Weinbehältern aus glasfaserverstärktem Polyester lässt sie plötzlich erstarren. 


In diesen schmutzig gelben Ungetümen hatten sie sich vor dem tobenden Vater versteckt, hatten sich durch die kleine, schwarze Öffnung gezwängt und in der übelriechenden Finsternis darauf gewartet, dass der Sturm vorüber zog. Die beiden Behälter scheinen sich aneinander zu klammern, die dünnen Hälse kopflos in den Himmel gereckt, die schwarzen Öffnungen wie klagend aufgerissene Kindermünder. Sie schüttelt das Bild von sich ab und eilt weiter zum Wohnhaus. Dort sucht sie hastig die Kleidungsstücke für Siegfried zusammen, holt noch einige Sachen aus dem Zimmer des Jungen, der jetzt bei ihr lebt. 
Am dritten Prozesstag erscheint Siegfried Lachmann in einem gebügelten, anthrazitfarbenem Herrenhemd mit hellgrau abgesetzten Streifen . Die beige Bundfaltenhose wird von einem schmalen, kunstvoll geflochtenen Ledergürtel gehalten. Seine Körperhaltung scheint jetzt aufrechter, würdevoller. Maria registriert es lächelnd.


Genesis 4:18 Als nächste Zeugin wird die erste Ehefrau des Angeklagten aufgerufen. Auf die Frage, warum sie Siegfried verlassen hätte, antwortet sie mit einem Schulterzucken. Sie ist eine grosse, kräftige Frau mit breiten Schultern. Über der altmodischen Bluse trägt sie ein goldenes Kettchen mit Kreuz. Ihr verkniffener, brauner Blick huscht unsicher durch den Saal. Zehn Jahre hatte die Ehe gehalten, irgendwann hatte sie es auf dem Hof nicht mehr ausgehalten. Sie hatte Siegfried bei einem Erntedank-Fest auf dem Marktplatz in Dettelbach kennen gelernt. Es war ein gutes Jahr für die fränkischen Weinbauern gewesen, Siegfried war ausgelassener Stimmung. Sie sass mit einer Freundin in dem grossen Festzelt, als der schlaksige, grosse Mann mit der schiefen Nase sie zum Tanzen aufforderte. Er war kein guter Tänzer, ungeschickt waren sie immer wieder gegen andere tanzende Paare gestossen, hatten gelacht und sich schliesslich in der Abenddämmerung hinter dem Zelt geküsst. Drei Monate später hatten sie geheiratet, kurz nachdem Horst Lachmann ihre Freundin zur Frau genommen hatte. 

Horst (links) und Siegfried Lachmann 

Horst hatte es bei den Frauen schon immer leichter gehabt als sein jüngerer Bruder, war redegewandt, charmant, von sich selbst eingenommen, ein wahrer ,Schürzenjäger‘. Ihr war die ehrliche, fleissige Art vom Siggi lieber gewesen. Sie hatte den Haushalt geführt und die Buchhaltung übernommen, hatte auf dem Hof und in den Bergen ausgeholfen. Sonntags war sie gemeinsam mit ihrem Mann zum Gottesdienst gegangen. Doch die Streitereien zwischen den Brüdern wurden unerträglich. Als die Ehe von Horst scheitert, flüchtet sich dieser in zügellose Trinkerei, die Auseinandersetzungen werden zunehmend brutaler. Siegfried verliert immer öfter die Nerven, herrscht seine Frau an, zerstört Mobiliar. Hin und wieder wird er handgreiflich, entschuldigt sich am nächsten Tag bei ihr zerknirscht mit einem Strauss Blumen. Die Ehe ist zerrüttet, sie bleibt dennoch. 
Doch dann passierte die Sache mit der Treppe. Es war Erntezeit, Siegfried arbeitete bis spät in den Abend draussen in den Bergen. Sie hatte das Essen vorbereitet und wollte gerade zu Bett gehen (sie schliefen seit einiger Zeit getrennt), als sie im Erdgeschoss ein heftiges Krachen und Fluchen vernimmt. Schwere Stiefel poltern die Treppe herauf, ängstlich und steif sitzt sie auf der Bettkante. Horst reisst die Schlafzimmertür auf, er ist schwer betrunken. Lallend hält er sich am Türrahmen fest, lässt die fleckige Hose herunter. Sie wehrt sich, schreit, beisst zu. Plötzlich steht Siegfried hinter ihnen, packt den Bruder am Schopf, schleift ihn brutal an den Haaren aus dem Schlafzimmer. An der Treppe kann Horst sich aus dem Griff befreien, sie prügeln aufeinander ein. Als Siegfried schwer getroffen zu Boden stürzt, wirft sie sich panisch dazwischen. 

Niemand konnte im Nachhinein genau sagen, wer in dem Gerangel ihr den fatalen Tritt versetzte, jedenfalls stürzte sie hart die Treppe hinunter, überschlug sich mehrfach und beendete diesen Streit mit einem spitzen Schrei und mehrfachen, komplizierten Knochenbrüchen. Als sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde, liess sie sich scheiden.

Genesis 4:19 Das Gericht erkundigt sich nach dem Scheitern der zweiten Ehe des Angeklagten, ein älterer Gastwirt aus Dettelbach erklärt knapp: „Zuletzt soff die immer mit dem Bruder“. Darüber hätten sich die „Saufkumpane vom Horst“ in seinem Wirtshaus häufig „ausgelassen“. Tagelang hätte sie den Holzverschlag im Maschinenraum nicht verlassen. Anfangs hätte Siegfried noch versucht, sie „da raus zu holen“, die Wut sei aber schliesslich in Resignation umgeschlagen. 
Als die zweite Ehefrau den Zeugenstand betritt, springt Siegfried plötzlich auf, murmelt Unverständliches und setzt sich verkehrt herum auf seinen Stuhl. Er wird mehrfach gebeten, sich korrekt hinzusetzen, erst als sein Verteidiger ihm etwas ins Ohr flüstert, kommt er der Aufforderung nach. Feindselig mustert er die vollschlanke Frau mit dem stumpfen, aufgedunsenen Gesicht. „Fette Fotze“, zischt Siegfried sie deutlich hörbar an, er wird verwarnt. 
Als er Erika kennenlernte, war sie schlank und lebenslustig gewesen, die Leichtigkeit ihres Lachens, ihr unbeschwertes Wesen hatten es ihm damals angetan. 


Sie arbeitete als neue Bedienung in der „Alten Schmiede“, eine kleine Schankwirtschaft, die man zu Fuss vom Weingut der Brüder Lachmann erreichen konnte. Für gewöhnlich mied Siegfried Gaststätten, süffige Gespräche mit fremden Menschen fielen ihm schwer. Nur hin und wieder, wenn er schlaflos und erschöpft in seinem kalten Bett lag, wenn er das Gegröle, die Raufereien, das Würgen aus der Lagerhalle nicht mehr ertrug, verschloss er Haus und Hof und spazierte durch die Dunkelheit runter zur „Alten Schmiede“. Der Bruder hatte hier striktes Hausverbot. Dort setzte er sich dann steif in die Ecke am Fenster, bestellte sich ein Bier und zahlte gleich. Ermüdet vom Stimmengewirr schlich er dann zurück zum Hof und schlief, vollständig bekleidet, endlich ein. 
An jenem Abend war alles anders gewesen. Es war Saison und das Wirtshaus überfüllt mit ausgelassenen Hilfsarbeitern aus der Umgebung. Die meisten waren bereits sehr betrunken und laut, Erika hatte Schwierigkeiten, sich durch die rempelnde Menge zu zwängen. Als einer der Gäste ihr frech in den Hintern kniff, liess sie erschrocken ihr Tablett fallen und insgesamt 4 Liter Weissbier und 16 CL Obstler ergossen sich auf den verdutzten Siegfried. 


Sie hatte herzlich gelacht, entschuldigende Worte kichernd versuchte sie seine nasse Hose mit einem Tuch zu trocknen. Es war lange her, dass eine Frau ihn berührt hatte. Er beschloss, ihr den Hof zu machen und mit seiner ihm eigenen Hartnäckigkeit setzte er sich schliesslich durch. Sie heirateten an einem Sonntag im Frühling. Als dann der Junge auf die Welt kam, war Siegfried überglücklich. Endlich ging es bergauf.

Genesis 4:20 Anfangs trank Erika noch heimlich. Da sie weder geschickt, noch sonderlich fleissig war, gab es für sie auf dem Weingut wenig zu tun. Sie langweilte sich, war frustriert und gereizt. Wenn das Baby schrie, wurde sie wütend, brüllte es an. Der Tag erschien ihr unerträglich lang. 

An einem schwülen Nachmittag im Juli lag sie schlecht gelaunt auf einer Monoblock-Liege auf dem Balkon. Siegfried war draussen in den Weinbergen. Der Junge schlief, sie blätterte gerade missmutig in einem Heft mit Kreuzworträtseln, stopfte sich noch eine klebrige Praline in den rosa angemalten Mund. „Eeeeeerika!“ rief Horst zu ihr hinauf. Er trug ein schmutziges Unterhemd und Jogging-Hosen, in der linken Hand hielt er eine Flasche Korn. „Komm, lass mich ins Haus! Sei so gut!“. Über der Balkonbrüstung schüttelt Erika entschlossen den Kopf, sollte Siegfried herausbekommen, dass sie den Bruder trotz striktem Verbot ins Haus gelassen hätte, würde es wieder zu heftigen, wochenlangen Auseinandersetzungen kommen. Wie beim letzten Mal. Dennoch sehnt sie sich nach Gesellschaft, sie lässt sich zu einem Glas Wein überreden. Horst holt zwei Camping-Stühle aus seinem Verschlag im Maschinenraum, der schlafende Junge wird auf einer Decke im Schatten eines Traubenvollernters abgelegt. Sie trinken mehrere Flaschen Wein, Horst reisst derbe Zoten, sie kichert und geniesst die Aufmerksamkeit. 


Als Siegfried abends nach Hause kommt, torkelt ihm eine betrunkene, gelöste Ehefrau entgegen. Zwar hat sie es versäumt, das Abendessen vorzubereiten, aber Siegfried, ihrer ständigen Nörgelei überdrüssig, ist erfreut über ihre unverhoffte Ausgelassenheit. 
Doch als die weinseligen Sitzungen mit Horst überhandnehmen, verhängt er wütend und eifersüchtig ein Alkoholverbot. Sie trinkt nun heimlich, schleicht sich nachts immer öfter in die Kelterhalle. In der Abstellkammer hinter Bleichmittel und Scheuerpulver versteckt sie eine Flasche Kräuterlikör, die ihr über den Tag hilft. Eines Abends kommt Siegfried früher als gewöhnlich nach Hause, er hat sich beim Zurückschneiden der Reben an der Hand verletzt. Seine Frau hockt mit glasigem Blick am Küchentisch, neben dem Stuhl liegt eine leere Schnapsflasche. Das hungrige Kind schreit verzweifelt in seinem Gitterbett. Von diesem Tag an nimmt er den Jungen mit in die Weinberge, trägt ihn auf seinem Rücken in einer Kiepe, die er fürsorglich mit Schafsfell ausgepolstert hat. Der Junge fühlt sich dort wohl, auch Siegfried sieht man häufiger lächeln. Erika hingegen verliert nun vollkommen den Halt, von jeglicher Verantwortung entbunden, ist sie schon mittags vollkommen dicht. Bei den Saufgelagen im Maschinenraum erfährt sie die Bestätigung, die sie in ihrer Ehe vermisst. Zunächst in Form von derben Sprüchen, später auf dem alten Sofa im Holzverschlag. Siegfried, verletzt und enttäuscht, versucht immer wieder seine Frau zurück ins Haus zu holen. Doch der Junge fürchtet sich vor der lauten, besoffenen Frau, die ständig stürzt und auf den Vater einschlägt. 


Er gibt auf. Erika verlässt nur noch selten den Holzverschlag, als Siegfried sie mit Horst und einem seiner ,Saufkumpanen‘ in einem der Stahltanks erwischt, lässt er sich scheiden. Er ist verzweifelt und erschöpft. Jeder Versuch, dieser Spirale aus Brutalität, Exzess und Gier etwas Gesundes und Gutes entgegen zu stemmen, wird durch den Bruder vereitelt. Unbändiger, kalter Hass frisst sich in Siegfrieds Seele.

Genesis 4:21 „Eine tote Ratte hat der Angeklagte Ihnen vor die Tür gelegt?“ fragt Richter Lothar Schmitt die nächste Zeugin, eine 51-jährige Reinigungskraft polnischer Herkunft. Sie nickt. Ihr schmales Gesicht ist vollkommen ausdruckslos, der Blick erschreckend leer. Ihr Haar ist zu einem strengen Dutt zusammengebunden, die Hände sind wie zum Gebet gefaltet. Weil der Siegfried ihr böse gewesen sei, weil sie ihm schon nach 13 Tagen vom Hof abgehauen sei. Sie habe bei ihm damals vorgesprochen, weil sie dringend eine Unterkunft brauchte, ihr Freund hatte sie mitten im Winter vor die Tür gesetzt. In Dettelbach hätte sie gehört, dass der Winzer ein Zimmer zu vermieten hätte. Doch dieser wollte gar nicht vermieten, er hätte erklärt, dass er eigentlich eine Frau suche. Warum sie nicht weitergezogen sei, will der Staatsanwalt wissen. „Weil es so kalt war, blieb ich da.“


Es war tatsächlich sehr kalt gewesen an diesem Nachmittag im Januar. Die Weinberge waren schneebedeckt, die Reben gefroren. Zeit für den Eiswein. Sie war den ganzen Weg aus Dettelbach zu dem Weingut der Brüder Lachmann zu Fuss hochgestapft, es war sehr windig und schneite. Der Schnee klatschte ihr unablässig ins Gesicht, die Wangen brannten. Ihre Hände, die ein ledernes Köfferchen gegen die Brust pressten, waren blau angelaufen. Als Siegfried ihr die Tür öffnete, war sie kraftlos auf einen Küchenstuhl gesunken und hatte zitternd ihr Anliegen vorgebracht. Siegfried hatte ihr eine Wolldecke gebracht und eine Kanne Tee aufgesetzt. Das Haus gefiel ihr, es war sehr gepflegt und ordentlich. Sie trank gerade einen Schluck Tee, als der Junge schüchtern den Kopf in die Küche steckt. Sie lächelt ihm zu, langsam wird ihr wieder wärmer. Als Siegfried ihr erklärt, dass er nicht vermieten wolle, sondern eine Frau suche, muss sie weinen. Das macht den Winzer nervös, beschwichtigend bietet er ihr an, erst mal zu bleiben. Sie nimmt das Angebot dankbar an. Sie schläft in seinem Bett, er auf dem Sofa. Als er sich in der Nacht zu ihr legt, lässt sie es geschehen, auch in der zweiten Nacht. Doch die nächtlichen Besuche behagen ihr nicht, sie bietet Siegfried an, ihm statt dessen bei der Arbeit auf dem Hof zur Hand zu gehen. Er akzeptiert es, glücklich über die Gesellschaft einer fleissigen Frau, die nicht trinkt. Am dritten Tag stellt sie überrascht fest, dass Siegfried ihren Namen am Briefkasten angebracht hat. Als sie ihn darauf anspricht, schmunzelt er verlegen. In den nächsten Tagen arbeiten sie zusammen auf dem Weingut, Siegfried ist fröhlich und überschwänglich, er ist verliebt. Sie nicht. Der grosse Mann mit der schiefen Nase ist ihr nicht geheuer. Und dessen Bruder erst, ständig betrunken und ausfallend. 


Als sie ein Verkaufsgespräch mit einer Kundin führen sollte, war der sturztrunken auf allen Vieren aus dem Holzverschlag gekrochen, hatte sich mühsam an einem Lagerregal hochgezogen und war auf die Kundin zugewankt. Der Gestank war unerträglich. Er hatte ihr derb an den Hintern gefasst, gelallt „ A moddz Oarsch! Häi wos machmern etz?“. Die Kundin war äusserst verärgert vom Hof gestampft. Als sie dem Siegfried von dem Zwischenfall berichtet, rastet dieser aus. Rasend vor Wut zerschlägt er leere Flaschen an der Hauswand, brüllt wüste Beschimpfungen. Am Kragen zieht er Horst aus der Lagerhalle, tritt ihm in den dicken Bauch. Horst ist zu betrunken, um sich zu wehren. Siegfried kreischt „Alles machst du mir kaputt, immer und immer und immer wieder! Pulverisieren werde ich dich!“ Horst, am Boden liegend, lacht ihn aus: „Vom Hof jagen werde ich dich, du Verlierer!“ Da greift Siegfried sich einen schweren Holzknüppel und schlägt besinnungslos auf die Beine seines Bruders ein. 

Am nächsten Tag hatte sie ihr Köfferchen gepackt und war zu dem Freund zurückgegangen, der sie auf die Strasse gesetzt hatte. Am Telefon hatte Siegfried sie angefleht, bei ihm zu bleiben, ihr schliesslich gedroht. Kurze Zeit später lag die tote Ratte vor der Tür.

Genesis 4:22 „Herr Lachmann, die Ermittler sicherten Spuren von Blut auf Ihrem Wohnzimmertisch. Es war Schweineblut. Wollen Sie sich dazu äussern?“. Siegfried senkt den Kopf und schweigt auch weiterhin am achten Prozesstag vor der Strafkammer des Landgericht Würzburgs. 
Sein Verteidiger Dr. Hanjo Schrepfer will wissen, ob die Klärung dieses Sachverhalts in irgend einer Weise relevant für die Verhandlung sei. Der Staatsanwalt antwortet spitz: „ Meines Wissens nach ist der Angeklagte von Beruf Winzer und kein Metzger, und auch die nehmen sich selten Arbeit mit nach Hause...“. Der Verteidiger kontert:“ Und möglicherweise konnte man auf dem Küchentisch Blutspuren eines Putenbrust-Filets sowie Rückstände von Schwarzwurzeln und Wickelklössen sichern. Das macht mitnichten zum Mörder, sondern vornehmlich satt.“.

Verteidiger und Staatsanwalt werden zur Ordnung gerufen. Ein Metzger aus Würzburg sagt aus, das Schwein am Montag, den 24. Januar 2011, wenige Tage vor dem Mord an Horst Lachmann, an den Angeklagten Siegfried Lachmann verkauft zu haben. Es sei ein ganzes Schwein gewesen. Ob er ihn gefragt habe, was er mit dem Schwein vorhätte. Der kleine, untersetzte Mann schüttelt verdutzt den Kopf. Er frage seine Kunden für gewöhnlich nicht nach dem Verwendungszweck seiner Fleischwaren, er gehe davon aus, dass sie zum Verzehr genutzt werden. 
Siegfried wird sichtlich unruhig, die Sache mit dem Schwein ist ihm unangenehm. Als ihm die kleine Polin schon nach zwei Wochen wieder abgehauen ist, war er zusammengebrochen. Den Jungen hatte er übers Wochenende zur Maria nach Dettelbach gebracht. Er hatte sich auf die Küchenbank gelegt und fürchterlich betrunken. Sie war eine feine Frau gewesen, so fleissig und mit guten Manieren. Aber der Horst hatte ja wieder alles kaputt machen müssen. Hätte der die Kundin nicht begrabscht, wäre er auch nicht mit dem Holzknüppel auf ihn losgegangen. Und dann wäre die Polin nicht abgehauen. 
Er trinkt, er weint, er brüllt, er schläft. Trinkt weiter. Als er am Sonntag den Jungen bei seiner Schwester abholt, ist sein Anblick furchterregend. Blutunterlaufene Augen, hängende Schultern. Vergeblich versucht Maria ihn zu trösten, ihren geliebten Bruder so leiden zu sehen, bricht ihr das Herz.


Am Montag Nachmittag klingelt bei Siegfried das Telefon. Ein ehemaliger Mitarbeiter berichtet, dass er gesehen haben will, wie Horst Anzeige gegen seinen Bruder erstattet haben soll. Ein Polizist auf der Wache in Dettelbach bestätigt die Information. Siegfried ist fassungslos. Oft waren die Auseinandersetzungen der Brüder gewalttätig ausgeufert, aber niemals war einer von ihnen damit an die Öffentlichkeit gegangen.

Das war Verrat. Wie betäubt setzt Siegfried sich in sein Auto und fährt nach Würzburg. Kauft das Schwein. Als der Junge im Bett ist, holt er das es aus dem Kofferraum. Er packt es auf den Wohnzimmertisch und starrt es eine Weile an. In seiner zitternden Hand hält er ein grosses Küchenmesser. Wut, Schmerz, Hass ballen sich hart in seinem Brustkorb zusammen. Als er das Messer in die blasse Flanke des Tieres rammt, spürt er endlich Erleichterung. „Ich bring dich um, du Schwein.“

Genesis 4:23 Eine Hand voll Ösen und Nieten soll Siegfried am neunten Prozesstag als Mörder überführen. Es sitzen viele Menschen im Saal, überall Journalisten und Fotografen. Man hat sich auf einen langen Verhandlungstag vorbereitet. Zwei ältere Damen aus Dettelbach haben ihre Pillendöschen mitgebracht, „Morgen, Mittag, Abend“, sowie belegte Brote und Thermoskannen.
Das Schwurgericht beruft sich auf eine Aussage Siegfrieds in der Aufnahmezelle der JVA Würzburg. Laut Aussage der Mitinsassen soll er erwähnt haben, er habe die Brechstange, mit der er den Schädel seines Bruders zerschmetterte, sowie seine blutdurchtränkte Kleidung in den Ofen geworfen. Die Tatwaffe habe er anschliessend „da vergraben, wo sie keiner findet“. Tatsächlich fand die Spurensicherung in einem Ofen auf dem Weingut Nieten und Ösen, die bei dem Verbrennen einer Jeans übrig geblieben sein könnten.
Da die Einzelheiten aus Siegfrieds ausführlicher Schilderung nur dem Täter bekannt sein dürften, scheint es keinen Zweifel mehr an der Schuld des Angeklagten zu geben. Der Staatsanwalt fordert 15 Jahre Haft wegen Mordes. Ein Raunen geht durch den Saal.


Siegfried berät sich leise mit seinem Verteidiger, schüttelt immer wieder den Kopf. Schliesslich beantragt Rechtsanwalt Dr. Schrepfer Prozessverlängerung und kündigt an, dass sein Mandant beabsichtigt, ein Geständnis abzulegen. Dieses werde veranschaulichen, dass es sich bei der Tat um eine Affekthandlung und somit um Totschlag gehandelt hat. Der Prozess wird vertagt.


Das Geständnis, das der Verteidiger am letzten Prozesstag verliest, umfasst 14 Seiten, der Titel lautet: „Seine Verwandtschaft kann man sich nicht heraussuchen“. Er schildert die brutalen Misshandlungen durch den Vater und den fünf Jahre älteren Bruder Horst und wie sich beide Männer regelmässig an seinen Schwestern vergingen. Wie das Opfer Siegfrieds Ehen zerstörte, ihn demütigte und ihm drohte. Und dass dieser im Ort wüste Verleumdungen über ihn verbreitete. Er habe zu keinem Zeitpunkt geplant, den Bruder zu töten.








„Am Donnerstagabend wollte ich noch mal mit dem Horst sprechen. Ich wollte ihn bloss überreden, seine Anzeige zurückzuziehen. Als ich die Kelterhalle betreten wollte, stellte ich fest, dass sie von innen verschlossen war. Ich wurde wütend. Da griff ich mir eine Brechstange und schlug ein Loch in die Holztür. Als ich die Halle betrat, musste ich feststellen, dass Horst im Rausch sowohl mehrere Tanks als auch die Traubenpresse beschädigt hatte.
Da ist mir der Kragen geplatzt. Ich schlug auf die Wände seines Holzverschlags ein. Horst hatte sich in einem Schrank versteckt. Er wollte nicht herauskommen, da habe ich auf die Schranktüren eingeschlagen. Immer weiter, wie im Wahn. Als ich wieder zu mir kam, lag er tot am Boden.“

Er habe ihm die Genitalien zertreten, weil diese die Ursache seiner gescheiterten Ehen gewesen seien. An dieser Stelle des Geständnisses blickt Siegfried unsicher zu seiner  Schwester Maria, die ihm blass aus dem Saal zunickt.

„Wird Kain siebenfach gerächt, / dann Lamech siebenundsiebzigfach.“ - Das Ende.


Genesis 4:24 In seinem Schlussplädoyer bestreitet Verteidiger Hanjo Schrepfer den Tatbestand des Mordes. Es soll sich im Falle des Winzers um eine Affekthandlung und somit um Totschlag gehandelt haben. „Über Jahrzehnte lang aufgestaute Wut und Hass, Summe aller akkumulierten Kränkungen, Misshandlungen, Demütigungen. Es war nur noch eine Frage der Zeit. Wie viel Schmerz, seelisch und körperlich, kann ein Mensch ertragen, bevor etwas in ihm kaputt geht? Versuchen Sie bitte, sich diesen immensen Hass vorzustellen. Nicht jenen leidenschaftlichen einer Hass-Liebe, der teils von guten, positiven Momenten und Emotionen entschleunigt wird. Nicht den kalten, berechnenden Hass durch einen ideologisch verklärten Filter. Sondern viel mehr eine Art „absoluter Hass“, der über die Jahrzehnte exponentiell wächst und dem nichts entgegen zu stellen ist. Ein Hass, der so gewaltig ist, dass er den Menschen um den Verstand bringt. Der Affekt, in dem Siegfried Lachmann tötete, dauerte 54 Jahre an.“


Nach dem Plädoyer ziehen sich der vorsitzende Richter Lothar Schmitt mit den anderen Richtern und den Schöffen zur Beratung zurück. Es herrscht grosse Anspannung im Saal, es wird viel geflüstert. Dann das Urteil: 10 Jahre und 6 Monate Haft wegen Totschlags. Der  Richter erkennt die besondere Härte der Vorgeschichte an. An der Schuld des Angeklagten bestehe kein Zweifel, da dieser geständig war und ausserdem über Wissen verfügte, das nur dem Täter zugänglich gewesen sein konnte. Als Beispiel nennt er Siegfrieds Aussage, er habe seine mit dem Blut des Opfers durchtränkte Kleidung im Ofen verbrannt, was mit dem Ergebnis der Spurensicherung übereinstimmt, die dort Nieten und Ösen einer Jeans fanden. Schuldig also. 


So weit, so gut. Nur dass Siegfried Lachmann in seinem ganzen Leben keine Nieten-Jeans getragen hatte. Einem aufmerksamem Beobachter wäre nicht entgangen, dass Siegfrieds Garderobe gediegen und auffallend geschmackssicher gewählt ist. Sich Siegfried in Nieten-Jeans vorzustellen, ist unmöglich. Und noch etwas hatten sowohl Gutachter als auch Spurensicherung übersehen, obwohl es in jedem Handbuch steht: wird Gewalt am Genitalbereich eines männlichen Opfers ausgeübt, handelt es sich bei dem Täter mit 99-prozentiger Wahrscheinlichkeit um eine Frau. Die wenigen bekannten Ausnahmen sind wiederum zu 99 % im Homosexuellen-Milieu zu verorten. Für heterosexuelle Männer habe das männliche Geschlecht keinen Symbolwert, so lautet die kriminalpsychologische Auslegung der Statistik.
Siegfried ist zufrieden. Es war alles so gelaufen, wie es sollte. Alle hatten sie ihm seine Geschichte geglaubt, der überhebliche Richter genau so wie Staatsanwalt und Verteidiger, und der hat sogar einen Doktor. Siegfried ist ein einfacher Mann, aber nicht dumm. Und er hat sich über die Jahre eine unerschütterliche Ausdauer zugelegt. Als er abgeführt wird, dreht er sich noch ein letztes Mal um. Da steht sie in der Menge, blass und zerbrechlich, sie lächelt ihn liebevoll an. Nein, er war kein Mörder. Die Maria, die war es gewesen, die hatte den Horst kalt gemacht. Dieses Schwein. Selber schuld. Und Siegfried hatte seiner kleinen Schwester damals doch was versprochen, nämlich, dass er immer auf sie aufpassen würde. Und was der Siggi verspricht, das hält der Siggi auch. Er nickt ihr vielsagend zu. Lächelt.