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20120327

Bleierne Zeit


1993/03/27 - Darmstadt Das Kommando "Katharina Hammerschmidt" der "Rote Armee Fraktion" sprengt die gerade fertiggestellte "Justizvollzugsanstalt Weiterstadt", die die obsolet gewordene Haftanstalt Preungesheim ersetzen soll. Weiterstadt soll in fünf Tagen festlich eröffnet und bis dahin mit fünfhundert Häftlingen befüllt werden. Zehn Wächter sind vor Ort, drei saufen im Postenhaus gegen die Langeweile im leeren Knast an, sieben Justizvollzugsanwärter sind schon dicht, sie schlafen in den neugebauten Zellen. 
01:25 Uhr, mindestens drei Männer und eine Frau überwinden die 6,50 m hohe Aussenmauer. Es sind wahrscheinlich Daniela Klette, Ernst Volker Staub und Burkhard Garweg und vielleicht Birgit Hogefeld und der am 27. Juni 1993 in Bad Kleinen ums Leben gekommene Wolfgang Grams.

Alle sind maskiert und mit Maschinenpistolen bewaffnet. Sie dringen in das Postenhaus ein, dort verfolgen drei Wächter, zwei private und ein verbeamteter, "Die schönsten Bahnstrecken Deutschlands", es gibt Chips und Bier, vielleicht Schnaps. „Hände hoch! Auf den Boden, auf den Bauch!“ Die Wächter gehorchen. „Hände auf den Rücken! Handschellen anlegen! Wir sind von der RAF. Wir haben 200 Kilogramm Sprengstoff mitgebracht. Heute Nacht wird der Knast gesprengt.“ Die Wächter grummeln. „Aber: Wir sind da, um euch vorher zu evakuieren.“ Die Wächter blicken unsicher. „Euch wird nichts passieren“, beruhigt sie Klette, „wenn ihr keine Scheisse baut.“ Die Vollzugsanwärter werden im Schlaf überrascht und ebenfalls gefesselt. Anschließend sperren die Angreifer das Personal in einen Lieferwagen und stellen das Fahrzeug etwa 600 m entfernt hinter einer Deponie ab. 
Es geht sehr entspannt weiter, die Abrissbrigade lässt sich mehrere Stunden Zeit, sucht das Gelände nach weiteren Personen ab, trinkt das Bier aus und deponiert fünf Ladungen mit insgesamt 200 kg gewerblichem Sprengstoff. Um 05:12 Uhr explodieren die Sprengladungen. Drei Unterkunftsgebäude und der Verwaltungstrakt werden zerstört, der Rest der Anlage mehr oder weniger schwer beschädigt. Die sofortige Fahndung bleibt erfolglos. Der materielle Schaden beträgt 123 Millionen DM.







Der Name des Kommandos geht auf Katharina Hammerschmidt zurück, die, nachdem sie während der Haft an Krebs erkrankte, der dort mit Beruhigungs- und Abführmittel behandelt wurde, bald starb.* Am 30. März 1993, veröffentlicht das "Kommando Katharina Hammerschmidt" eine Erklärung zum Anschlag auf den Knast Weiterstadt:

„Der Weiterstädter Knast steht exemplarisch dafür, wie der Staat mit dem aufbrechenden und sich zuspitzenden Widersprüchen umgeht: gegen immer mehr Menschen Knast, Knast, Knast – und er steht als Abschiebeknast für die rassistische staatliche Flüchtlingspolitik. In seiner technologischen Perfektion von Isolation und Differenzierung von gefangenen Menschen ist er Modell für Europa. (…) – Knäste müssen abgerissen werden.“

Der Sprengstoffanschlag gegen die JVA Weiterstadt war die letzte Aufsehen erregende Aktion der "Rote Armee Fraktion" vor ihrer Auflösung im Jahr 1998. Der Wiederaufbau dauerte vier Jahre. Im Mai 1997 können die ersten Gefangenen aus der Haftanstalt Preungesheim nach Weiterstadt verlegt werden.

*1970 kam Hammerschmidt über ihre Freundin Gudrun Ensslin zur RAF. Sie unterstützte die Gruppe in erster Linie durch die Bereitstellung von konspirativer Unterkunft und als Kurier. Bald wird sie steckbrieflich gesucht und flieht nach Frankreich. Ihr wird vorgeworfen, „Waffen für die Terroristen weitergeleitet und unter falschem Namen Wohnungen angemietet haben“. Auf Rat ihres Rechtsanwaltes Otto Schily kehrte sie jedoch bald darauf nach Deutschland zurück und stellt sich am 29. Juni 1972 der Justiz. Schily hofft darauf, dass Hammerschmidt vernommen, dann aber entlassen wird. Bereits bei Haftantritt klagt sie über Gesundheitsbeschwerden. 

Im August 1973 wurden bei einer routinemäßigen Untersuchung durch einen Anstaltsarzt Röntgenbilder angefertigt, auf denen Wucherungen zu erkennen sind, die schmalen Verschattungen rechts und links werden vom Arzt übersehen. Hammerschmidt klagt über erhebliche Halsschmerzen, Heiserkeit und einen geschwollenen Hals. Nach Blutentnahme erneuter Analyse der Röntgenaufnahmen und Begutachtung durch zwei Anstaltsärzte, einer davon Internist, wird festgestellt, dass alles in Ordnung sei. Ihr schlechter Allgemeinzustand wird mit dem Ende Juni 1973 beendeten Hungerstreik und Rufen durch das Gefängnisfenste erklärt, eine unbeteiligte „Toilettenfrau“ kommentiert den Gesundheitszustand so: „zwischen ihren Kinnladen und dem Hals [war] überhaupt kein Übergang mehr sichtbar“.