Es werden mehrere Zeugen zu der Kindheit von Opfer und Täter befragt. Man ist sich einig, „Kindheit, das gab es auf dem Weingut Lachmann nicht“. Die Jungen hätten von Anfang an arbeiten müssen wie erwachsene Männer, haben nie Lesen und Schreiben gelernt. Erziehung hiess: Blutergüsse und Knochenbrüche. Horst, der sich früh zum aggressiven Draufgänger entwickelt habe, sah man schon mit elf Jahren häufig sturztrunken auf den fünf Jahre jüngeren Siegfried losgehen. Die beiden Mädchen sollen es auch nicht leicht gehabt haben, im Ort soll doch jeder gewusst haben, dass der Vater sich an ihnen verging.
Siegfried, auf seiner Anklagebank, ist sichtlich angespannt, fährt sich immer wieder mit beiden Händen durch das graue Haar, wirft seinen beiden jüngeren Schwestern im Saal gequälte Blicke zu. Plötzlich springt er auf, sein Anwalt will ihn zurück auf seinen Stuhl ziehen. Aber Siegfried bleibt stehen, senkt den Kopf und rezitiert leise murmelnd ein Gedicht. Nur ein sehr genauer Beobachter hätte in diesem Moment bemerkt, dass sich die Lippen der Schwestern stumm dazu bewegen.
Das Gedicht hatte ihm ein Erntehelfer beigebracht, „Die Füsse im Feuer“. Der kleine Siegfried hatte niemals ein Buch gesehen, er prägte sich jedes Wort sehr behutsam ein. Als er es der Mutter vortragen wollte, unterbrach sie ihn entsetzt nach dem vierten Vers und eilte zum Vater. Es setzte eine gewaltige Tracht Prügel, die ihm diesen „Weiber-Unsinn“ schon austreiben werde.
Der Erntehelfer wurde unbezahlt vom Hof gejagt. Aber es war zu spät, das Gedicht war sicher und unsichtbar in seiner Erinnerung verwahrt. Dorthin reichte die Gewalt des Vaters nicht.
Einige Jahre später, an einem verregneten Vormittag im März, schickte die Mutter ihn zum Geräteschuppen, er sollte Flachswerg holen. Auf dem steinernen Fussboden neben der Werkzeugbank lag wimmernd seine jüngste Schwester, die Maria. Sie war vollkommen entblösst, sie zitterte, der Mund war ganz blau. Über ihr das verzerrte Gesicht des Vaters. Leise schloss er die Tür des Geräteschuppens und lief zurück zum Wohnhaus.
Er setzte sich schweigend an den runden Küchentisch und beobachtete den breiten Rücken der Mutter, die gerade Kartoffeln schälte. „Der Vater und die Maria ...“ setzte er an. „Ich weiss.“ unterbrach die Mutter ihn trocken. Er wollte zur Polizei gehen, das wäre doch verboten. Sie winkt ab, nein, schliesslich kommt der Vater für den Lebensunterhalt auf, so sei es nun mal. Immerhin habe sie durchsetzen können, dass dieser wartet, bis die Mädchen vierzehn Jahre alt sind. Erst viele Jahre später war ihm mal der Gedanke gekommen, dass die Mutter genau wusste, was sie tat, als sie ihn vorsätzlich zum Geräteschuppen schickte.
In jener Nacht schlich er sich auf Zehenspitzen an das Bett der kleinen Schwester. Unbeholfen und vorsichtig strich er über ihren Kopf. Sie griff nach seiner Hand und legte sie auf ihre nasse Wange. So verharrten sie einen Moment, keiner der beiden sagte etwas. In den nächsten Tagen brachte er seinen kleinen Schwestern den Trick mit dem Gedicht bei. Stillhalten, sich nur auf die Worte konzentrieren. Warten, dass es vorübergeht.