Anfangs trank Erika noch heimlich. Da sie weder geschickt, noch sonderlich fleissig war, gab es für sie auf dem Weingut wenig zu tun. Sie langweilte sich, war frustriert und gereizt. Wenn das Baby schrie, wurde sie wütend, brüllte es an. Der Tag erschien ihr unerträglich lang.
An einem schwülen Nachmittag im Juli lag sie schlecht gelaunt auf einer Monoblock-Liege auf dem Balkon. Siegfried war draussen in den Weinbergen. Der Junge schlief, sie blätterte gerade missmutig in einem Heft mit Kreuzworträtseln, stopfte sich noch eine klebrige Praline in den rosa angemalten Mund. „Eeeeeerika!“ rief Horst zu ihr hinauf. Er trug ein schmutziges Unterhemd und Jogging-Hosen, in der linken Hand hielt er eine Flasche Korn. „Komm, lass mich ins Haus! Sei so gut!“. Über der Balkonbrüstung schüttelt Erika entschlossen den Kopf, sollte Siegfried herausbekommen, dass sie den Bruder trotz striktem Verbot ins Haus gelassen hätte, würde es wieder zu heftigen, wochenlangen Auseinandersetzungen kommen. Wie beim letzten Mal. Dennoch sehnt sie sich nach Gesellschaft, sie lässt sich zu einem Glas Wein überreden. Horst holt zwei Camping-Stühle aus seinem Verschlag im Maschinenraum, der schlafende Junge wird auf einer Decke im Schatten eines Traubenvollernters abgelegt. Sie trinken mehrere Flaschen Wein, Horst reisst derbe Zoten, sie kichert und geniesst die Aufmerksamkeit.
Als Siegfried abends nach Hause kommt, torkelt ihm eine betrunkene, gelöste Ehefrau entgegen. Zwar hat sie es versäumt, das Abendessen vorzubereiten, aber Siegfried, ihrer ständigen Nörgelei überdrüssig, ist erfreut über ihre unverhoffte Ausgelassenheit.
Doch als die weinseligen Sitzungen mit Horst überhandnehmen, verhängt er wütend und eifersüchtig ein Alkoholverbot. Sie trinkt nun heimlich, schleicht sich nachts immer öfter in die Kelterhalle. In der Abstellkammer hinter Bleichmittel und Scheuerpulver versteckt sie eine Flasche Kräuterlikör, die ihr über den Tag hilft. Eines Abends kommt Siegfried früher als gewöhnlich nach Hause, er hat sich beim Zurückschneiden der Reben an der Hand verletzt. Seine Frau hockt mit glasigem Blick am Küchentisch, neben dem Stuhl liegt eine leere Schnapsflasche. Das hungrige Kind schreit verzweifelt in seinem Gitterbett. Von diesem Tag an nimmt er den Jungen mit in die Weinberge, trägt ihn auf seinem Rücken in einer Kiepe, die er fürsorglich mit Schafsfell ausgepolstert hat. Der Junge fühlt sich dort wohl, auch Siegfried sieht man häufiger lächeln. Erika hingegen verliert nun vollkommen den Halt, von jeglicher Verantwortung entbunden, ist sie schon mittags vollkommen dicht. Bei den Saufgelagen im Maschinenraum erfährt sie die Bestätigung, die sie in ihrer Ehe vermisst. Zunächst in Form von derben Sprüchen, später auf dem alten Sofa im Holzverschlag. Siegfried, verletzt und enttäuscht, versucht immer wieder seine Frau zurück ins Haus zu holen. Doch der Junge fürchtet sich vor der lauten, besoffenen Frau, die ständig stürzt und auf den Vater einschlägt.
Er gibt auf. Erika verlässt nur noch selten den Holzverschlag, als Siegfried sie mit Horst und einem seiner ,Saufkumpanen‘ in einem der Stahltanks erwischt, lässt er sich scheiden. Er ist verzweifelt und erschöpft. Jeder Versuch, dieser Spirale aus Brutalität, Exzess und Gier etwas Gesundes und Gutes entgegen zu stemmen, wird durch den Bruder vereitelt. Unbändiger, kalter Hass frisst sich in Siegfrieds Seele.

