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20120801



1944/08/01 - Anne Frank verfasst in ihrem Tagebuch den letzten Eintrag:


Liebe Kitty!

»Ein Bündelchen Widerspruch!« Das ist der letzte Satz meines vori-

gen Briefes und der erste von meinem heutigen. »Ein Bündelchen

Widerspruch«, kannst du mir genau erklären, was das ist? Was be-

deutet Widerspruch? Wie so viele Worte hat es zwei Bedeutungen,

Widerspruch von außen und Widerspruch von innen. Das Erste ist

das normale »sich nicht zufrieden geben mit der Meinung anderer

Leute, es selbst besser zu wissen, das letzte Wort zu behalten«, kurz-

um, alles unangenehme Eigenschaften, für die ich bekannt bin. Das

Zweite, und dafür bin ich nicht bekannt, ist mein Geheimnis.

Ich habe dir schon öfter erzählt, dass meine Seele sozusagen zweige-

teilt ist. Die eine Seite beherbergt meine ausgelassene Fröhlichkeit,

die Spöttereien über alles, Lebenslustigkeit und vor allem meine Art,

alles von der leichten Seite zu nehmen. Darunter verstehe ich, an

einem Flirt nichts zu finden, einem Kuss, einer Umarmung, einem

unanständigen Witz. Diese Seite sitzt meistens auf der Lauer und

verdrängt die andere, die viel schöner, reiner und tiefer ist. Nicht

wahr, die schöne Seite von Anne, die kennt niemand, und darum kön-

nen mich auch so wenige Menschen leiden. Sicher, ich bin ein amü-

santer Clown für einen Nachmittag, dann hat jeder wieder für einen

Monat genug von mir. Eigentlich genau dasselbe, was ein Liebesfilm

für ernsthafte Menschen ist, einfach eine Ablenkung, eine Zerstreu-

ung für einmal, etwas, das man schnell vergisst, nicht schlecht, aber

noch weniger gut. Es ist mir unangenehm, dir das zu erzählen, aber

warum sollte ich es nicht tun, wenn ich doch weiß, dass es die Wahr-

heit ist? Meine leichtere, oberflächliche Seite wird der tieferen im-

mer zuvorkommen und darum immer gewinnen. Du kannst dir nicht

vorstellen, wie oft ich nicht schon versucht habe, diese Anne, die nur

die Hälfte der ganzen Anne ist, wegzuschieben, umzukrempeln und

zu verbergen. Es geht nicht, und ich weiß auch, warum es nicht geht.

Ich habe große Angst, dass alle, die mich kennen, wie ich immer bin,

entdecken würden, dass ich eine andere Seite habe, eine schönere und

bessere. Ich habe Angst, dass sie mich verspotten, mich lächerlich und

sentimental finden, mich nicht ernst nehmen. Ich bin daran gewöhnt,

nicht ernst genommen zu werden, aber nur die »leichte« Anne ist

daran gewöhnt und kann es aushalten. Die »schwerere« ist dafür zu

schwach. Wenn ich wirklich einmal mit Gewalt für eine Viertelstun-

de die gute Anne ins Rampenlicht gestellt habe, zieht sie sich wie ein

Blümchen-rühr-mich-nicht-an zurück, sobald sie sprechen soll, lässt

Anne Nr. 1 ans Wort und ist, bevor ich es weiß, verschwunden.

In Gesellschaft ist die liebe Anne also noch nie, noch nicht ein einzi-

ges Mal, zum Vorschein gekommen, aber beim Alleinsein führt sie

fast immer das Wort. Ich weiß genau, wie ich gern sein würde, wie

ich auch bin ... von innen, aber leider bin ich das nur für mich selbst.

Und das ist vielleicht, nein, ganz sicher, der Grund, warum ich mich

selbst eine glückliche Innennatur nenne und andere Menschen mich

für eine glückliche Außennatur halten. Innerlich weist die reine

Anne mir den Weg, äußerlich bin ich nichts als ein vor Ausgelassen-

heit sich losreißendes Geißlein.



Wie schon gesagt, ich fühle alles anders, als ich es ausspreche. Da-

durch habe ich den Ruf eines Mädchens bekommen, das Jungen nach-

läuft, flirtet, alles besser weiß und Unterhaltungsromane liest. Die

fröhliche Anne lacht darüber, gibt eine freche Antwort, zieht gleich-

gültig die Schultern hoch, tut, als ob es ihr nichts ausmacht. Aber ge-

nau umgekehrt reagiert die stille Anne. Wenn ich ganz ehrlich bin,

muss ich dir bekennen, dass es mich trifft, dass ich mir unsagbar viel

Mühe gebe, anders zu werden, aber dass ich immer wieder gegen stär-

kere Mächte kämpfe.

Es schluchzt in mir: Siehst du, das ist aus dir geworden: schlechte

Meinungen, spöttische und verstörte Gesichter, Menschen, die dich

unsympathisch finden, und das alles, weil du nicht auf den Rat dei-

ner guten Hälfte hörst. Ach, ich würde gern darauf hören, aber es

geht nicht. Wenn ich still oder ernst bin, denken alle, dass das eine

neue Komödie ist, und dann muss ich mich mit einem Witz retten.

Ganz zu schweigen von meiner eigenen Familie, die bestimmt

glaubt, dass ich krank bin, mir Kopfwehpillen und Beruhigungstab-

letten zu schlucken gibt, mir an Hals und Stirn fühlt, ob ich Fieber

habe, mich nach meinem Stuhlgang fragt und meine schlechte Lau-

ne kritisiert. Das halte ich nicht aus, wenn so auf mich aufgepasst

wird, dann werde ich erst schnippisch, dann traurig, und schließlich

drehe ich mein Herz wieder um, drehe das Schlechte nach außen,

das Gute nach innen und suche dauernd nach einem Mittel, um so

zu werden, wie ich gern sein würde und wie ich sein könnte,

wenn ... wenn keine anderen Menschen auf der Welt leben würden.


Deine Anne M. Frank



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