Ein Jahr später. Mittwoch, 25. Januar 2012: erster Prozesstag im Hauptverfahren gegen Siegfried Lachmann vor dem Schwurgericht des Landgerichts Würzburg. Raum, Tische und Bänke sind vollständig mit hellem Birkenholz verkleidet.
Siegfried, in blauer Anstaltskleidung, sitzt regungslos neben seinem Anwalt, Dr. Hans-Jochen Schrepfer. Der „Hanjo“, wie er ihn nennen soll, das ist ein guter Mann. Der hat gesagt, vielleicht kann er ihn da raushauen, er darf nur nichts sagen. Auf gar keinen Fall. Sich nicht provozieren lassen. Ja, Zähne zusammenbeissen, das kann er, das hat er schliesslich Jahre lang gemacht. Wenn er merkt, dass er wütend wird, dann soll er an den Jungen denken. Ein guter Mann, der Hanjo.
Siegfried schweigt, er hat sich geschworen, kein einziges Wort zu verlieren, und „Was der Siggi sich vornimmt, das zieht er durch“. Ohne Tatwaffe, ohne Zeugen, ohne Geständnis kriegen die ihn nicht wegen Mordes ran. Die Schwestern verweigern auch die Aussage.
Der erste Zeuge wird aufgerufen, es ist Ingo M., der Kraftfahrer aus Erlangen. Er wurde inzwischen freigesprochen, die Küchenhilfe hatte schliesslich eingeräumt, ihn aus Eifersucht angezeigt zu haben.
Woher er den Angeklagten kenne. Ingo M. schaut verunsichert in Siegfrieds Richtung. Er scheint sich zu fürchten. „Aus der U-Haft. Der Siggi kam zu uns in die Aufnahmezelle. In der gleichen Nacht ist der wieder weg, wegen dem Schnürsenkel.“
Wie sich der Angeklagte über die Tat geäussert haben solle. „Alles hat der erzählt, hat gar nicht mehr aufgehört. Wollte sich alles von der Seele reden. Sprach der vom Bruder, wurde er tierisch aggressiv, dann redete er über seine Kindheit und fing an zu flennen. Immer so hoch und runter.“ Er habe ihnen erzählt, dass er seinen Bruder Horst zuvor mit einem Holzknüppel attackiert habe, immer auf die Beine, als dieser ihm drohte, ihn vom „Hof jagen“ zu wollen. Als dieser Anzeige bei der Polizei erstattete, da ist „ihm der Kragen geplatzt“. Er wollte noch mal mit dem Bruder reden. Als ältester Sohn hatte Horst ein Wohnhaus in Dettelbach und den Hof geerbt, Siegfried hatte der Vater das Häuschen auf dem Weingut vererbt und die Leitung des Familienbetriebes übergeben.
An dieser Stelle des Vortrags von Ingo M. muss Siegfried unwillkürlich lächeln. Ihm die Betriebsleitung anzuvertrauen war die erste und einzige Bestätigung, die der Vater ihm jemals hatte zukommen lassen. Geprügelt und getreten hatte er den Horst und ihn. Den Horst viel weniger.
Er erinnert sich, es war Spätsommer, der Tag neigte sich dem Ende zu. Der Himmel über dem Weinberg war glutrot. Siegfried, vielleicht 9 Jahre alt, hatte es versäumt, wie angewiesen, einen Bewässerungsschlauch in den Geräteschuppen zu räumen. Der Vater war angetrunken über den Hof gewankt, hatte sich mit einem Fuss in dem verhedderten Schlauch verfangen und war unsanft gestürzt. Der kleine Siegfried eilte aufgeregt herbei, als er sich hinunterbeugte, um seinem Vater aufzuhelfen, trat dieser dem Jungen brutal ins Gesicht. Der schwere Arbeitsschuh brach ihm das Nasenbein, ein Schwall warmes Blut lief ihm in den Mund, über das Kinn, auf sein Hemd. Wimmernd taumelte er zurück, „Hald dai Goschn!“ schnauzte der Vater.
Horst, der in einer Ecke des Hofes mit den polnischen Erntehelfern Karten gespielt und die Szene aufmerksam verfolgt hatte, brach in gehässiges Gelächter aus. Die Arbeiter und der Vater fielen mit ein. Siegfried wagte es nicht, nach der Nase zu tasten, es brannte, ihm war schwindelig, Tränen und Rotz vermischten sich mit Blut, er lief wie betäubt in die Lagerhalle zur Mutter. Die führte gerade mit einer Kundin ein Verkaufsgespräch. Verärgert schob sie das Kind nach draussen, „Verschwind, du Debb!“. Als sie dann auf Drängen der Kundin nach dem Kind suchte, fand sie es schliesslich zusammengekauert in einem leeren Weinfass. Ungehalten zerrte sie den Jungen am Handgelenk zu einer Tonne mit Regenwasser, wusch grob das Blut aus dem geschwollenen Gesicht und eilte zurück zur Lagerhalle.
An diesem Abend zog er sich unbemerkt zurück auf den Weinberg. Legte sich mit dem Rücken auf die kühle, feuchte Erde. Ein Auge war zu geschwollen, sein Gesicht pochte. Der laue Abendwind trug ihm die derben Trinklieder der Polen zu. Die alten Rebstöcke beugten sich schützend über ihn.
Er nahm sich vor, keine Fehler mehr zu machen. Keine eigenen, nicht die des Vaters und der Mutter. Sein Sohn würde es besser haben. Er würde ihn lieben und schützen. Er dürfte zur Schule gehen und Freunde besuchen. Sein Sohn hätte Freunde. Und einen richtigen Vater.