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20120316

Genesis 4:12


Siegfried wird in eine Aufnahmezelle in der JVA Würzburg geführt. Untersuchungshaft. Zwei der vier Pritschen sind bereits belegt. Als die Tür hinter ihm ins Schloss fällt, wird er unsicher. Die beiden Häftlinge, die an dem kleinen Tisch in der Mitte der Zelle sitzen, lassen ihn nicht aus den Augen. Er inspiziert das engmaschige Gitternetz vor dem kleinen Fenster, seine neue Schlafstatt, das unbequeme, mit Schaumstoff gefüllte Keilkissen, die graue Wolldecke. Dann zieht er sich die Schuhe aus, stellt sie ordentlich ans Fussende, legt sich rücklings auf sein neues Lager, starrt an die Decke. Keiner der drei Männer sagt ein Wort. Plötzlich vernimmt man ein kräftiges, langgezogenes Schnarchen: Siegfried ist in einen tiefen, regungslosen Schlaf gefallen.


„Komischer Typ.“ flüstert Ingo M., ein beleibter Kraftfahrer aus Erlangen. Der andere, deutlich jüngere Patrick E. aus Österreich, zuckt mit den Schultern. „Schwer zu sagen ...“. Sie betrachten stirnrunzelnd die Silhouette des Neuen. Ziemlich gross, kräftige Statur. Kurze, graue Haare, der akkurate Pony gerade wie mit einem Lineal geschnitten. Ein grauer, sorgfältig gestutzter Bart. Die lange, knorpelige Nase ist auffallend schief, sie muss in der Vergangenheit mehrfach gebrochen worden sein. Plötzlich rutscht die linke Hand von der Brust des Schlafenden. Ingo und Patrick bemerken die zahlreichen Schwielen und kleinen Narben. 
„Schlachter.“ schlägt Ingo vor. „Naa, Tischler.“ vermutet Patrick. Die Stimmen haben Siegfried geweckt, er richtet sich auf: “Winzer. Ich bin Winzer.“. „Und woher kommen die vielen kleinen Narben?“ fragt ihn der Kraftfahrer aus Erlangen. „Vom Heften der Reben. Tückisch, dieser Heftdraht.“ Man kommt ins Gespräch. Ingo M. soll im Auflieger seines Sattelschleppers die Küchenhilfe  einer von ihm häufig angefahrenen Raststätte vergewaltigt haben. „Und ... hast du?“ erkundigt sich Siegfried interessiert. „Nicht wirklich. Man kannte sich ja schon länger, die dachte ja wohl kaum, dass ich ihr die Paletten vorstellen wollte.“ Die Männer lachen. Patrick wurde auf der Heimfahrt von Holland nach Österreich mit zwei Kilo Kokain erwischt. „Blöd gelaufen.“ Jetzt ist Siegfried an der Reihe:“ Ich soll meinen Bruder in unserer Kelterhalle erschlagen haben“. „Und hast du?“ 
Siegfried erhebt sich von der Pritsche, läuft kopfschüttelnd auf und ab, dann, mit zittriger Stimme: „Verdient hat er es. Dieses versoffene Rindviech! Diese fette Drecksau! Zwei Ehen hat der mir kaputt gemacht, ist im Suff ständig über meine Weiber gestiegen. Vom Hof will er mich fegen, dieser Nichtsnutz, was hat der gedacht, wer den Betrieb am Laufen hält?“ Er schlägt mit der Faust heftig gegen die Wand. „Und jetzt auch noch die Kleine, nach zwei Wochen ist die mir wieder abgehauen, hat‘s nicht ausgehalten mit dem Bastard! Immer hat der mir alles kaputt gemacht! Genau wie der Vater!“ Jetzt laufen ihm die Tränen.

Er wird den beiden an diesem Abend noch viel erzählen, wird fluchen, heulen, Zoten zum Besten geben, Weinlieder singen und hin und wieder an dem kleinen Tisch einnicken. 
In der Nacht wird er sich an den schlafenden Österreicher schleichen, vorsichtig einen Schnürsenkel aus dessen rechtem Schuh fädeln, eine Schlinge am Bettgestell befestigen. Der Selbstmordversuch scheitert.  Ein Wächter findet ihn bewusstlos auf dem Fussboden, er wird verlegt. Als er wieder zu sich kommt, ist er überzeugt, er müsse gleich seinen Jungen zur Schule bringen.

Genesis 4:11 ______________________________________Genesis 4:13▲