„Schrecklich unwohl“ fühlt Siegfried sich in dem blauen Anstaltsanzug, die Schwester solle ihm doch bitte seine „richtige“ Kleidung mitbringen. Niemand kann sich vorstellen, wie viel Überwindung es Maria gekostet hat, diesen Hof und dieses Haus zu betreten. Irgendwie hatte sie es stets einrichten können, keinen Fuss mehr auf den Weinberg setzen zu müssen. Mit siebzehn Jahren hatte sie damals Hals über Kopf einen älteren, gutmütigen Speditionsfahrer aus dem Ort geheiratet. Es war eine ruhige und ereignislose Ehe, die ihr half, die schrecklichen Erinnerungen nach und nach verblassen zu lassen. Und nun stand sie also wieder vor dieser Einfahrt, brutale Bilder steigen in ihr hoch, schnüren ihr den Hals zu, sie bekommt kaum Luft. Gesenkten Hauptes überquert sie den Hof, es ist windig, vor der Kelterhalle flattert laut das weiss-rote Absperrband der Polizei.
Der Anblick von zwei mannshohen Weinbehältern aus glasfaserverstärktem Polyester lässt sie plötzlich erstarren.
In diesen schmutzig gelben Ungetümen hatten sie sich vor dem tobenden Vater versteckt, hatten sich durch die kleine, schwarze Öffnung gezwängt und in der übelriechenden Finsternis darauf gewartet, dass der Sturm vorüber zog. Die beiden Behälter scheinen sich aneinander zu klammern, die dünnen Hälse kopflos in den Himmel gereckt, die schwarzen Öffnungen wie klagend aufgerissene Kindermünder. Sie schüttelt das Bild von sich ab und eilt weiter zum Wohnhaus. Dort sucht sie hastig die Kleidungsstücke für Siegfried zusammen, holt noch einige Sachen aus dem Zimmer des Jungen, der jetzt bei ihr lebt.
Am dritten Prozesstag erscheint Siegfried Lachmann in einem gebügelten, anthrazitfarbenem Herrenhemd mit hellgrau abgesetzten Streifen . Die beige Bundfaltenhose wird von einem schmalen, kunstvoll geflochtenen Ledergürtel gehalten. Seine Körperhaltung scheint jetzt aufrechter, würdevoller. Maria registriert es lächelnd.
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