www.blogpingsite.com

20120327

Genesis 4:18


Als nächste Zeugin wird die erste Ehefrau des Angeklagten aufgerufen. Auf die Frage, warum sie Siegfried verlassen hätte, antwortet sie mit einem Schulterzucken. Sie ist eine grosse, kräftige Frau mit breiten Schultern. Über der altmodischen Bluse trägt sie ein goldenes Kettchen mit Kreuz. Ihr verkniffener, brauner Blick huscht unsicher durch den Saal. Zehn Jahre hatte die Ehe gehalten, irgendwann hatte sie es auf dem Hof nicht mehr ausgehalten. Sie hatte Siegfried bei einem Erntedank-Fest auf dem Marktplatz in Dettelbach kennen gelernt. Es war ein gutes Jahr für die fränkischen Weinbauern gewesen, Siegfried war ausgelassener Stimmung. Sie sass mit einer Freundin in dem grossen Festzelt, als der schlaksige, grosse Mann mit der schiefen Nase sie zum Tanzen aufforderte. Er war kein guter Tänzer, ungeschickt waren sie immer wieder gegen andere tanzende Paare gestossen, hatten gelacht und sich schliesslich in der Abenddämmerung hinter dem Zelt geküsst. Drei Monate später hatten sie geheiratet, kurz nachdem Horst Lachmann ihre Freundin zur Frau genommen hatte. 

Horst (links) und Siegfried Lachmann 

Horst hatte es bei den Frauen schon immer leichter gehabt als sein jüngerer Bruder, war redegewandt, charmant, von sich selbst eingenommen, ein wahrer ,Schürzenjäger‘. Ihr war die ehrliche, fleissige Art vom Siggi lieber gewesen. Sie hatte den Haushalt geführt und die Buchhaltung übernommen, hatte auf dem Hof und in den Bergen ausgeholfen. Sonntags war sie gemeinsam mit ihrem Mann zum Gottesdienst gegangen. Doch die Streitereien zwischen den Brüdern wurden unerträglich. Als die Ehe von Horst scheitert, flüchtet sich dieser in zügellose Trinkerei, die Auseinandersetzungen werden zunehmend brutaler. Siegfried verliert immer öfter die Nerven, herrscht seine Frau an, zerstört Mobiliar. Hin und wieder wird er handgreiflich, entschuldigt sich am nächsten Tag bei ihr zerknirscht mit einem Strauss Blumen. Die Ehe ist zerrüttet, sie bleibt dennoch. 
Doch dann passierte die Sache mit der Treppe. Es war Erntezeit, Siegfried arbeitete bis spät in den Abend draussen in den Bergen. Sie hatte das Essen vorbereitet und wollte gerade zu Bett gehen (sie schliefen seit einiger Zeit getrennt), als sie im Erdgeschoss ein heftiges Krachen und Fluchen vernimmt. Schwere Stiefel poltern die Treppe herauf, ängstlich und steif sitzt sie auf der Bettkante. Horst reisst die Schlafzimmertür auf, er ist schwer betrunken. Lallend hält er sich am Türrahmen fest, lässt die fleckige Hose herunter. Sie wehrt sich, schreit, beisst zu. Plötzlich steht Siegfried hinter ihnen, packt den Bruder am Schopf, schleift ihn brutal an den Haaren aus dem Schlafzimmer. An der Treppe kann Horst sich aus dem Griff befreien, sie prügeln aufeinander ein. Als Siegfried schwer getroffen zu Boden stürzt, wirft sie sich panisch dazwischen. 

Niemand konnte im Nachhinein genau sagen, wer in dem Gerangel ihr den fatalen Tritt versetzte, jedenfalls stürzte sie hart die Treppe hinunter, überschlug sich mehrfach und beendete diesen Streit mit einem spitzen Schrei und mehrfachen, komplizierten Knochenbrüchen. Als sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde, liess sie sich scheiden.