„Eine tote Ratte hat der Angeklagte Ihnen vor die Tür gelegt?“ fragt Richter Lothar Schmitt die nächste Zeugin, eine 51-jährige Reinigungskraft polnischer Herkunft. Sie nickt. Ihr schmales Gesicht ist vollkommen ausdruckslos, der Blick erschreckend leer. Ihr Haar ist zu einem strengen Dutt zusammengebunden, die Hände sind wie zum Gebet gefaltet. Weil der Siegfried ihr böse gewesen sei, weil sie ihm schon nach 13 Tagen vom Hof abgehauen sei. Sie habe bei ihm damals vorgesprochen, weil sie dringend eine Unterkunft brauchte, ihr Freund hatte sie mitten im Winter vor die Tür gesetzt. In Dettelbach hätte sie gehört, dass der Winzer ein Zimmer zu vermieten hätte. Doch dieser wollte gar nicht vermieten, er hätte erklärt, dass er eigentlich eine Frau suche. Warum sie nicht weitergezogen sei, will der Staatsanwalt wissen. „Weil es so kalt war, blieb ich da.“
Es war tatsächlich sehr kalt gewesen an diesem Nachmittag im Januar. Die Weinberge waren schneebedeckt, die Reben gefroren. Zeit für den Eiswein. Sie war den ganzen Weg aus Dettelbach zu dem Weingut der Brüder Lachmann zu Fuss hochgestapft, es war sehr windig und schneite. Der Schnee klatschte ihr unablässig ins Gesicht, die Wangen brannten. Ihre Hände, die ein ledernes Köfferchen gegen die Brust pressten, waren blau angelaufen. Als Siegfried ihr die Tür öffnete, war sie kraftlos auf einen Küchenstuhl gesunken und hatte zitternd ihr Anliegen vorgebracht. Siegfried hatte ihr eine Wolldecke gebracht und eine Kanne Tee aufgesetzt. Das Haus gefiel ihr, es war sehr gepflegt und ordentlich. Sie trank gerade einen Schluck Tee, als der Junge schüchtern den Kopf in die Küche steckt. Sie lächelt ihm zu, langsam wird ihr wieder wärmer. Als Siegfried ihr erklärt, dass er nicht vermieten wolle, sondern eine Frau suche, muss sie weinen. Das macht den Winzer nervös, beschwichtigend bietet er ihr an, erst mal zu bleiben. Sie nimmt das Angebot dankbar an. Sie schläft in seinem Bett, er auf dem Sofa. Als er sich in der Nacht zu ihr legt, lässt sie es geschehen, auch in der zweiten Nacht. Doch die nächtlichen Besuche behagen ihr nicht, sie bietet Siegfried an, ihm statt dessen bei der Arbeit auf dem Hof zur Hand zu gehen. Er akzeptiert es, glücklich über die Gesellschaft einer fleissigen Frau, die nicht trinkt. Am dritten Tag stellt sie überrascht fest, dass Siegfried ihren Namen am Briefkasten angebracht hat. Als sie ihn darauf anspricht, schmunzelt er verlegen. In den nächsten Tagen arbeiten sie zusammen auf dem Weingut, Siegfried ist fröhlich und überschwänglich, er ist verliebt. Sie nicht. Der grosse Mann mit der schiefen Nase ist ihr nicht geheuer. Und dessen Bruder erst, ständig betrunken und ausfallend.
Als sie ein Verkaufsgespräch mit einer Kundin führen sollte, war der sturztrunken auf allen Vieren aus dem Holzverschlag gekrochen, hatte sich mühsam an einem Lagerregal hochgezogen und war auf die Kundin zugewankt. Der Gestank war unerträglich. Er hatte ihr derb an den Hintern gefasst, gelallt „ A moddz Oarsch! Häi wos machmern etz?“. Die Kundin war äusserst verärgert vom Hof gestampft. Als sie dem Siegfried von dem Zwischenfall berichtet, rastet dieser aus. Rasend vor Wut zerschlägt er leere Flaschen an der Hauswand, brüllt wüste Beschimpfungen. Am Kragen zieht er Horst aus der Lagerhalle, tritt ihm in den dicken Bauch. Horst ist zu betrunken, um sich zu wehren. Siegfried kreischt „Alles machst du mir kaputt, immer und immer und immer wieder! Pulverisieren werde ich dich!“ Horst, am Boden liegend, lacht ihn aus: „Vom Hof jagen werde ich dich, du Verlierer!“ Da greift Siegfried sich einen schweren Holzknüppel und schlägt besinnungslos auf die Beine seines Bruders ein.
Am nächsten Tag hatte sie ihr Köfferchen gepackt und war zu dem Freund zurückgegangen, der sie auf die Strasse gesetzt hatte. Am Telefon hatte Siegfried sie angefleht, bei ihm zu bleiben, ihr schliesslich gedroht. Kurze Zeit später lag die tote Ratte vor der Tür.